Austria
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Das Leben und der Tod von Lisa-Maria Kellermayr

Am Boden liegt ein Blumenstrauß, daneben stehen ein paar Grabkerzen. Die letzten Hinweise dafür, dass hinter dieser Türe im ersten Stock eines Mehrparteienhauses in Seewalchen am Attersee eine Tragödie geschehen ist.

Das grauenhafte Ende eines öffentlichen Dramas
In dieser - zu einem Teil - durch die Gangfenster einsehbaren Ordination. Ganz in Weiß gehalten, mit stylishen Ornamenten an den Wänden und Designersesseln im Wartebereich. Das dahinter liegende Behandlungszimmer von Dr. Lisa-Maria Kellermayr - wissen ehemalige Patienten - im selben Stil eingerichtet. Extrem hell, extrem modern.

Vor dem Eingang der Praxis erinnern Blumen und Grabkerzen an ihr Drama. (Bild: Foto: Martina Prewein, Krone KREATIV)

Vor dem Eingang der Praxis erinnern Blumen und Grabkerzen an ihr Drama.

(Bild: Foto: Martina Prewein, Krone KREATIV)

Drei Briefe vor Verzweiflungstat
Hier, in dieser scheinbar so positiven Atmosphäre, hat sich die Allgemeinmedizinerin irgendwann am 28. Juli an ihren Schreibtisch gesetzt und am Computer drei Briefe geschrieben:

Einen, in dem sie sich bei Ex-Gesundheitsminister Rudi Anschober, der Linzer Psychiaterin Heidi Kastner und BVT-Chef Omar Haijawi-Pirchner für deren Verständnis bedankte. Einen, in dem sie die Leistungen ihrer Mitarbeiterinnen würdigte. Einen, in dem sie der Ärztekammer und der oberösterreichische Polizei Versagen in ihrem Fall vorwarf - und ihnen damit eine Mitschuld gab an dem, was nun gleich passieren würde. Daraufhin zog sich die 36-Jährige in ihren Panikraum - eine schalldichte, von außen kaum aufzubrechende Kammer - zurück. Und brachte sich dort um. Das grauenhafte Ende eines öffentlichen Dramas.

Ungehörte Hilferufe, zu späte Ermittlungen
Unermüdlich hatte Lisa-Maria Kellermayr ja seit vielen Monaten in Interviews und auf sozialen Medien erzählt - über Morddrohungen rechtsradikaler Corona-Leugner per Mail, Telegram und Twitter an sie; über ihre Angst, die Ankündigungen könnten in die Realität umgesetzt werden; über den Unwillen der Behörden, ihr in ihrer Not beizustehen.

Und klar, der Psychozustand der Frau - die trotz ihrer proklamierten Schwäche irgendwie auch stark wirkte - wurde laufend schlechter. Wie immens ihre Pein gewesen sein muss, wird aber erst nach ihrem Suizid bewusst.

Tausende Menschen waren dabei, als ihr bei Mahnkundgebungen in halb Österreich gedacht wurde. Die Rufe nach härteren Gesetzen gegen Hass im Netz sind nun sehr laut. Die Verfolger der Frau sollen jetzt ausgeforscht und für ihre Taten bestraft werden; ein Verfahren gegen einen Mann aus Bayern ist im Laufen.

Trauerbekundungen von Menschen, die mit der Medizinerin in Kontakt waren und - so deren Selbstanklage - nicht das Ausmaß ihres Leids erkannt hätten, sind in Endlosschleife auf Facebook & Co. zu lesen. Wer war Lisa-Maria Kellermayr, was war ihre Geschichte? Sie wuchs in wohlbehüteten Verhältnissen in einer kleinen Ortschaft im Bezirk Wels auf; mit drei jüngeren Geschwistern.

Ein braves Kind, eine fleißige Studentin
Lisa sei von klein an besonders empathisch gewesen. Verletzte Vögel und Igel habe sie von den Straßen aufgelesen und zu Hause gesund gepflegt, erinnern sich Dorfbewohner. „Schon in der Volksschule ist es ihr Traum gewesen, Ärztin zu werden“, sagt ihr Vater.

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Schon in der Volksschule ist es ihr Traum gewesen, Ärztin zu werden.

Der Vater von Lisa-Maria Kellermayr

Und fleißig habe sie ihr großes Ziel verfolgt. Nach der Matura inskribierte sie Medizin; jobbte in Callcentern, um sich ihr Studium selbst zu finanzieren. Den Turnus absolvierte sie in einer Reha-Klinik. Und seit ihrer frühen Jugend arbeitete sie zudem beim Roten Kreuz. „Sie hatte eigentlich nie Freizeit“, erzählt eine einstige Kollegin, „sie war einfach ein Workaholic.“

Sie ging selten aus, verbrachte ihre Wochenenden - neben Kirchenbesuchen, sie war sehr religiös - damit, Fachliteratur zu lesen. Privat habe sie sich bloß eine Leidenschaft „gegönnt“: Sie war Fan der deutschen gesellschaftskritischen Satiriker Joko und Klaas, reiste mitunter sogar zu Shows von ihnen. Fest steht: Fast jeder, der Lisa-Maria Kellermayr kannte, mochte sie. Wegen ihres freundlichen Wesens, ihrer Hilfsbereitschaft. Dennoch: Freunde, echte Freunde - hatte sie kaum. Weil ihr Beruf, ihre Berufung, keinen Platz dafür ließ. Was sie freilich zur Einsamkeit verdammte. Die sie vielleicht manchmal zweifeln ließ, am Sinn ihres Daseins?

Lisa-Maria Kellermayr in ihrer Ordination in Seewalchen, bei einem Interview mit der „Krone“ (Bild: Alexander Schwarzl)

Lisa-Maria Kellermayr in ihrer Ordination in Seewalchen, bei einem Interview mit der „Krone“

(Bild: Alexander Schwarzl)

Ihre Leistungen blieben unerkannt
Das, so seltsam es klingen mag, enormen Sinn bekam - mit Corona. Plötzlich wurde sie nämlich „richtig gebraucht“ - nachdem sie einem Aufruf der Ärztekammer, die Mediziner zur Betreuung von Infizierten gesucht hatte, gefolgt war. Fortan versah sie bis zu 80 Stunden Dienst pro Woche; in ihrer kargen Freizeit sog sie wissenschaftliche Artikel über die Seuche in sich auf.

Schon zu Pandemie-Beginn trat sie für den Einsatz von Asthma-Sprays bei der Behandlung Infizierter ein, und später für die Impfung. Sie begann über ihre Erkenntnisse zu twittern, sprach darüber in YouTube-Videos. Ja, sie war tatsächlich eine Vorreiterin im Kampf gegen das Virus.

Was zunächst - außer Covid-Leugnern - kaum jemand wahrnahm. Fazit: Die Angriffe gegen sie wurden laufend massiver, während ihre Ratschläge im World Wide Web versickerten. Ihre Aufklärungsbemühungen brachten ihr also vorerst nur negative Response ein.

Frust und Enttäuschung
Und sie war frustriert, als die von ihr längst eingesetzten Medikamente im Sommer 2020 populär gemacht wurden, von berühmten Virologen. „Warum bleiben meine Erfahrungen damit unerwähnt?“, klagte sie auf sozialen Medien: „Weil ich eine Frau und jung bin?“ Trotz ihrer tiefen Enttäuschung: Sie gab nicht auf. In ihrem Drang, Gutes zu vollbringen.

Herbst 2021: Lisa-Maria Kellermayr sah in einem Privat-TV-Sender einen Beitrag über eine „Corona-Demo“, deren Teilnehmer - so wurde in dem Bericht behauptet - Rettungsfahrzeuge bei der Einfahrt in ein Spital behindern würden. Die Ärztin verfasste daraufhin ein kritisches Posting. Wie bereits so viele davor.

Der wahrscheinliche Beginn einer Katastrophe
Aber dieses sorgte eben - erstmals - für allgemeine Aufregung. Denn die Behörden dementierten ihre Angaben. Womit ein Mega-Shitstorm gegen sie in Gang kam. Die Frau wandte sich an die Polizei, Beamte erklärten ihr, dass im Internet getätigte „Unmutsäußerungen“ nicht so ernst zu nehmen seien; die Ärztekammer wies sie auf Hunderte Impfärzte hin, die mit ähnlichen Angriffen konfrontiert seien. Die Frau fühlte sich im Stich gelassen; aber sie versuchte gleichzeitig, ihre Kräfte zu mobilisieren. Ergo gab sie nicht auf. In ihrem Drang, Gutes zu vollbringen. Bei der Aufgabe, die vor ihr stand.

„Ich werde Landärztin!“, verkündete sie mit einem Happy-Smiley im November des Vorjahrs auf Facebook. Sorgfältig hatte sie da bereits die Möbel für ihre Ordination ausgesucht. Alles sollte ganz neu sein, die Zukunft wunderbar werden. Ausschließlich Frauen stellte sie ein, vor der Eröffnung ging sie mit ihnen „zum Spaß, zur Teambildung“ in einen Escape-Raum. Im Nachhinein wirkt es, als wäre diese Aktion eine Vorahnung von etwas Schlimmem gewesen.

Tatsache ist: Mit ihrem Schritt in die Selbstständigkeit nahmen die Attacken auf sie zu, und sie wurden noch schrecklicher. Hilfe von außen blieb weiterhin aus. Woraufhin sie ein Zimmer zu einer Flucht-, einer Panikkammer umbauen ließ, und Securitys engagierte. Denn sie wollte nicht aufgeben. In ihrem Drang, Gutes zu vollbringen.

Das Lichtermeer in Wien im Gedenken an Lisa-Maria Kellermayr (Bild: APA/Georg Hochmuth)

Das Lichtermeer in Wien im Gedenken an Lisa-Maria Kellermayr

(Bild: APA/Georg Hochmuth)

„Sie war die beste Ärztin, bei der ich je war“
Patienten erzählen über unterschiedliche Erfahrungen mit ihr. „Sie war eine tolle Ärztin“, schildert eine Seewalcherin: „Sie schaffte es, die Ursache meiner rätselhaften Ausschläge zu erkennen.“ Ein Mann wiederum meint: „Ich fühlte mich bei ihr unwohl. Weil während meiner Behandlung ein Bewacher dabei war.“

Die Visite von ihm habe im Frühling 2022 stattgefunden; zu einer Zeit, als die Frau unter kaum noch erträglichem Druck stand. 100.000 Euro hatte sie mittlerweile für Sicherheitsvorkehrungen ausgegeben, sie stand vor dem finanziellen Ruin. Außerdem immer im Kopf: die Drohungen über eine Massenhinrichtung in ihrer Praxis. Ende Juni legte Lisa-Maria Kellermayr ihre Ordinationstätigkeit still. Mit der Begründung, dass sie im Moment nicht in der Lage sei, ihre Mitarbeiterinnen und Patienten vor Blutverbrechen zu bewahren.

In den letzten Wochen ihres Lebens befand sie sich fast nur noch in ihrem Panikraum, selten verließ sie ihn für Lebensmitteleinkäufe; ihre Furcht vor einem Überfall, so Ortsansässige, sei dabei offenkundig gewesen: „Dauernd beobachtete sie die Umgebung.“

Irgendwie: Sie gab nicht auf. In ihrem Drang, Gutes zu vollbringen. Irgendwann wieder. Sie gab die Hoffnung darauf nicht auf, redete mit Journalisten über ihre Situation.

Ein Begräbnis im Geheimen
„Die Artikel über ihr Schicksal in der ,Krone‘ schätzte meine Tochter sehr“, sagt der Vater der Frau: „Und über ihren Suizid wurde in Ihrer Zeitung genau so berichtet, wie sie es gewollt hätte.“ Ihr Begräbnis wird im Geheimen stattfinden. Wegen der Angst, ihre Feinde könnten die Trauerfeierlichkeiten stören: „Es soll endlich Ruhe einkehren, für sie, und für uns.“ Lisa-Maria Kellermayrs Mutter ist jetzt Zielobjekt von Radikalen. Unter Facebook-Postings von ihr werden nun menschenverachtende Nachrichten getippt.

Angeblich hat die Ärztin in einem ihrer Abschiedsbriefe geschrieben: „Ich verlasse eine schlechte Welt.“ In ihrem Drang, Gutes zu vollbringen, fühlte sie sich demnach gescheitert. Dazu hätte es nicht kommen dürfen.

Wenn Sie oder eine Ihnen nahestehende Person sich in einer psychischen Ausnahmesituation befinden oder von Suizid-Gedanken betroffen sind, wenden Sie sich bitte an die Telefon-Seelsorge unter der Telefonnummer 142. Weitere Krisentelefone und Notrufnummern finden Sie HIER.