Switzerland
This article was added by the user . TheWorldNews is not responsible for the content of the platform.

Berner Schulen im Dilemma: Im Kanton Bern fehlt jeder zehnten Lehrperson das Diplom

Berner Schulen im DilemmaIm Kanton Bern fehlt jeder zehnten Lehrperson das Diplom

Wenn am Montag das neue Schuljahr beginnt, haben nur 90 Prozent der Lehrpersonen eine der Stelle entsprechende pädagogische Ausbildung absolviert. Ein Qualitätsabbau, sagen Kritiker.

Die Ferien im Kanton Bern sind bald vorbei: Ab Montag müssen Kinder und Jugendliche – im Bild das Schulhaus Pestalozzi in Burgdorf – wieder in den Unterricht.

Die Ferien im Kanton Bern sind bald vorbei: Ab Montag müssen Kinder und Jugendliche – im Bild das Schulhaus Pestalozzi in Burgdorf – wieder in den Unterricht.

Foto: Beat Mathys

Wir haben es ein weiteres Mal geschafft, wenn auch nur unter grössten Kraftanstrengungen! Das ist salopp zusammengefasst die Message, welche die bernische Bildungsdirektorin Christine Häsler (Grüne) am Mittwochmorgen an einer Medienkonferenz in die Öffentlichkeit trug. 

Mitte Mai waren noch über 500 Stellen für Lehrkräfte im Kanton Bern offen – so viele wie nie in den letzten Jahren. Diese Stellen hätten in der Zwischenzeit «weitgehend» besetzt werden können, so Häsler. Nur für kurzfristige Vakanzen suche man derzeit gemeinsam mit den betroffenen Schulen noch nach Lösungen. 

Wenn die Kinder und Jugendlichen am Montag wieder zur Schule gehen, wird also in jedem Klassenzimmer im Kanton jemand neben der Wandtafel auf sie warten. Alles in Butter also? Keineswegs. «Die Situation wird angespannt bleiben», sagt Häsler. Die Herausforderung, alle freien Stellen besetzen zu können, war heuer so gross wie noch nie. Und sie dürfte in den nächsten Jahren nicht kleiner werden. Die Gründe dafür liegen in der Demografie.

Tiefere Anforderungen

Die Schweiz hat ein akutes Fachkräfteproblem. Die Baby-Boomer-Generation geht in Pension. Nicht wenige davon – darunter auch manche Lehrerinnen und Lehrer – können es sich sogar leisten, ein paar Jahre früher den Job an den Nagel zu hängen. Diese Fachkräfte sollen ausgerechnet von den geburtenschwächsten Jahrgängen der letzten siebzig Jahre ersetzt werden – eine Rechnung, die rein mathematisch nicht aufgehen kann. 

Während auf den Flughäfen, in den Spitälern oder auf den Baustellen Personen aus dem Ausland aushelfen können, ist das in den Klassenzimmern aufgrund der Sprachbarriere deutlich schwieriger. Auch wenn das niemand so offen aussprechen will, wählen viele Gemeinden deshalb einen etwas unschönen Weg, um diesem Problem zu entkommen: Sie gehen laufend Kompromisse bei der Anstellung von neuen Lehrpersonen ein.

Wenn am Montag das neue Schuljahr beginnt, verfügt bereits jede zehnte Lehrperson im Kanton Bern über eine Ausbildung, die nicht den Anforderungen der Funktion entspricht. Diese Gruppe erhält 20 Prozent weniger Lohn als die ausgebildeten Lehrkräfte. Ohne die «Diplomlosen» würde es heute aber gar nicht mehr gehen. Die Schulen seien darauf angewiesen, dass auch Personen ohne entsprechende Ausbildung sie unterstützten, sagt auch Christine Häsler. 

Der Lehrkräftemangel wird auch Christine Häslers zweite Amtszeit prägen.

Der Lehrkräftemangel wird auch Christine Häslers zweite Amtszeit prägen.

Foto: Nicole Philipp

Aufs neue Schuljahr erreicht dieser Trend ein neues Niveau. Ab August sollen sogenannte Klassenhilfen, die für 30 Franken pro Lektion die Lehrkräfte bei der Betreuung unterstützen, auf allen Stufen der Volksschule zum Einsatz kommen. Bisher halfen diese Hilfskräfte vor allem bei unteren Stufen aus, etwa im Kindergarten. 

Das Anforderungsprofil an diese Klassenhilfen ist sehr breit gefasst. Das zeigt zum Beispiel ein Stelleninserat, welches eine Primarschule in Thun jüngst aufgeschaltet hat. Sie sucht per sofort eine Person, welche die Lehrkräfte unterstützen kann. Einzige Anforderung: «Sie unterstützen und begleiten gerne Jugendliche in ihrer schulischen Tätigkeit. Ein pädagogischer Hintergrund wäre wünschenswert, jedoch nicht Bedingung.»

Forderung nach Bildungsoffensive

Gegen diesen schleichenden Abbau der Qualitätsstandards kämpft im Kanton Bern insbesondere Bildung Bern, der Berufsverband der Lehrerinnen und Lehrer. «Wir machen uns grosse Sorgen über die Situation an den Schulen», sagte Pino Mangiarratti, der Präsident von Bildung Bern, der ebenfalls an der Medienkonferenz sprach. Nicht überall im Kanton Bern könne derzeit eine Bildung gewährleistet werden, die den eigentlichen Standards entspreche.

Auch er sehe zwar, dass es für viele Probleme keine kurzfristigen Lösungen gebe. Mangiarratti fordert jedoch, dass bei den Behörden jetzt ein Umdenken stattfinde, damit die Probleme langfristig kleiner würden. «Es braucht nun eine Bildungsoffensive», so Mangiarratti. Insbesondere die Anstellungsbedingungen der Lehrkräfte müssten dringend verbessert werden. Das könnte etwa Lehrkräfte, die den Beruf verlassen hätten, zum Comeback bewegen.

Aushilfe von der PH Bern

Nicht nur Bildung Bern, auch viele Schulen wollen sich mit der Situation nicht einfach abfinden. Brigitta Blaser Weber ist Co-Schulleiterin der Schule Schliern in der Gemeinde Köniz. Sie hat nach wie vor den festen Anspruch, freie Stellen mit Personen zu besetzen, die über ein Diplom einer pädagogischen Hochschule verfügen. «Ich schreibe ein Stelleninserat lieber noch einmal neu aus, bis ich wirklich eine geeignete Person gefunden habe», sagt sie. 

Blaser Weber ist überzeugt, dass es zum Unterrichten viel mehr braucht als nur Fachwissen und «Kinder gerne zu haben». «Nur weil jemand Auto fährt und schon oft Bus gefahren ist, kann er am nächsten Tag auch nicht als Chauffeur bei Bernmobil anfangen», sagt sie. 

An diesem Grundsatz festzuhalten, wird jedoch von Jahr zu Jahr schwieriger. Bei langfristigen Neubesetzungen klappe es noch recht gut. Schwieriger wird es, wenn kurzfristig eine Stelle neu zu besetzen ist, etwa für Stellvertretungen. «Da muss man heute bereit sein, Kompromisse einzugehen», sagt Blaser Weber. Vorzugsweise helfen dann Studierende der Pädagogischen Hochschule Bern für einige Wochen aus oder übernehmen neben dem Studium kleinere Pensen.

Auch im Kollegium gebe es in solchen Fällen stets die Bereitschaft, für einige Wochen ein paar zusätzliche Lektionen zu übernehmen, um so eine Situation überbrücken zu können. Die Ausnahme zur Regel zu machen, findet Blaser Weber aber die falsche Lösung. «Ich gehe davon aus, dass unsere Lehrpersonen jenes Pensum haben, welches für sie passend und zu bewältigen ist.» Bei jeder Neubesetzung zuerst im Kollegium nachzufragen, ob nicht jemand noch weiter aufstocken wolle, sei eher kontraproduktiv.

Hoffnung auf Quereinsteiger

An vielen Schulen musste man diesen Sommer auch solche Kompromisse eingehen. Neben der Anstellung von Personen ohne entsprechende Diplome half nur noch das Aufstocken von Pensen, damit die Lücken gefüllt werden konnten. Bildung Bern warnt aber seit Jahren, dass dieses Instrument bald einmal ausgereizt ist.

Immerhin: Die Anmeldungszahlen an der PH Bern sind nach wie vor stabil. Der Beruf hat also nichts an seiner Attraktivität verloren. Neu soll auch eine verkürzte Ausbildung für Quereinsteigende an der PH Bern angeboten werden. Die Bildungsdirektion will ab Ende August an Informationsveranstaltungen darüber informieren.

Quentin Schlapbach ist Redaktor im Ressort Bern. Er hat eine kaufmännische Lehre gemacht und an der Schweizer Journalistenschule MAZ in Luzern studiert. Mehr Infos@qscBZ

Fehler gefunden? Jetzt melden.