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Islamforscher erklärt, warum die Fatwa gegen Salman Rushdie ein Etikettenschwindel war

Iranische Mädchen fordern im Februar 1989 den Tod des indisch-britischen Autors Salman Rushdie.

Iranische Mädchen fordern im Februar 1989 den Tod des indisch-britischen Autors Salman Rushdie.Bild: Hulton Archive

Vor über einer Woche wurde der indisch-britische Autor Salman Rushdie, 75, bei einem Vortrag in den USA brutal niedergestochen. 33 Jahre zuvor hatte der iranische Religionsführer Ruhollah Chomeini mit einer Fatwa seinen Tod gefordert. Versuch einer Einordnung.

Julia Stephan / ch media

Reinhard Schulze, hat Sie die Messerattacke auf Salman Rushdie überrascht?
Reinhard Schulze: Auf jeden Fall! Es gab keinerlei Hinweise darauf, dass die Fatwa in der schiitischen Szene, die sich stark mit dem Revolutionsregime im Iran verbunden fühlt, wieder stärker diskutiert worden wäre. Eine politische Grundlage für diese Attacke gab es nicht - höchstens eine indirekte.

Inwiefern?
Die iranischen Behörden hatten immer wieder darauf hingewiesen, dass der 2020 von den Amerikanern getötete Chef der Revolutionsgarden, Qasem Soleimani, gerächt werden müsse. Der aus einer schiitischen libanesischen Familie stammende amerikanische Attentäter hat in den sozialen Medien Bilder von Soleimani hinterlegt, was möglicherweise dafür spricht, dass er seine Tat als Rache für die Tötung Soleimanis verstanden wissen wollte.

Salman Rushdie bei einer Signierstunde für sein Buch «Home» in London am 6. Juni 2017.

Salman Rushdie bei einer Signierstunde für sein Buch «Home» in London am 6. Juni 2017. Bild: keystone

Erklären Sie uns in einfachen Worten: Was ist eine Fatwa?
Streng genommen ist eine Fatwa eine nicht verbindliche Rechtsauskunft. Man holt sich die Meinung eines Rechtsexperten ein, wenn man sich zum Beispiel in Erbschafts-, Ehe- oder Erziehungsfragen uneinig ist. Der damalige Religionsführer Ruhollah Chomeini hatte seine im Februar 1989 veröffentlichte Schrift zu Salman Rushdie als Fatwa bezeichnet, obwohl sie formal wie von der Funktion her gar keine ist. Sie war eine Verfügung oder ein Freibrief, der den Einzelnen zum ausführenden Organ eines juristischen Willens machte. Chomeini hatte sich da einfach etwas herausgenommen. Auch die arabische Öffentlichkeit fand damals, dass das nicht gehe.

Wie kam es dazu, dass ein Roman politisch derart instrumentalisiert werden konnte?
Durch die Iran-Contra-Affäre in den 1980ern war nachgewiesen worden, dass Iran von Israel Waffen erhalten hatte. In der arabischen Öffentlichkeit war das ein riesiger Skandal. Das Prestige des Regimes war auf dem Nullpunkt. Salman Rushdies Roman war wie ein Geschenk Gottes für Chomeini. Er sprang auf die Protestwelle auf, um sich als führende Macht, die den Islam verteidigt, wieder ins Spiel zu bringen. Dabei war der Protest an der Peripherie der islamischen Welt entstanden, unter anderem in der britischen Stadt Bradford. Dort lebte eine muslimische Gemeinschaft, die den Propheten Mohammed auf besondere Weise verehrte. Diese fühlten sich beleidigt, weil Rushdie den Propheten Mohammed in die Rolle von «Mahound» kleidete. Mahound war der im christlichen Mittelalter verbreitete verunglimpfende Name für Mohammed.

Reinhard Schulze

Reinhard SchulzeBild: universität bern

Zur Person

Reinhard Schulze (69) ist Islamwissenschafter und Linguist. Er war von 1995 bis 2018 Professor für Islamwissenschaften an der Universität Bern. Seit 2018 ist er Direktor des «Forum Islam und Naher Osten» (Fino), das helfen will, neuere wissenschaftliche Erkenntnisse zum Islam und Nahen Osten einer breiteren Öffentlichkeit vertraut zu machen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehö­ren u. a. der Islamismus und der islamische Transnationalismus. Schulze hat mehrere Bücher zum Thema verfasst, darunter «Geschichte der islamischen Welt. Von 1900 bis in die Gegenwart» oder «Der Koran und die Genealogie des Islam». Er lebt in Bern.

Auf Twitter schreiben Sie, die Islamisten hätten Rushdies Roman nicht verstanden.
Rushdie sagte ja selbst: «Erinnern wir uns daran, dass es in dem Buch eigentlich nicht um den Islam geht, sondern um Migration, Metamorphose, ein gespaltenes Selbst, Liebe, Tod, London und Bombay.» Das Buch ist keine Religionskritik, sondern eine Zeitkritik, verpackt in einen magischen Realismus, der deutlich macht, dass das Geschilderte nichts mit den religiösen Welten, in denen sich Musliminnen und Muslime bewegen, zu tun hat.

Wie hat die iranische Öffentlichkeit auf den Anschlag reagiert?
Die mit dem Revolutionsregime eng verbundene national-religiöse Presse begrüsst den Anschlag. Es herrscht die Ansicht vor, dass sich die Tat aus der Verletzung des Iran heraus ergeben habe, dass der Iran aber nicht Auftraggeber des Anschlags gewesen sei. Die iranische Regierung hält sich bedeckt, möchte den Vorfall nicht kommentieren. Dann gibt es die Reformer, die sich über ihre eigenen Presseorgane mit deutlichen Worten von der Tat distanziert haben und sie für komplett aus der Zeit gefallen halten. Eine vierte Gruppe sind die im Exil und teilweise auch im Iran lebenden Theologen, Philosophinnen und Naturwissenschafter, die stark in Opposition zum System stehen. Ein paar von ihnen haben soeben eine scharfe Erklärung unterschrieben. Diese Form des Protests hat auch im Iran ihre Anhängerinnen und Anhänger.

Der Anschlag auf Schriftsteller Salman Rushdie löste in der westlichen Welt Entsetzen aus. Die iranische Zeitung «Vatan-e Emrooz» titelte am 13. August: «Messer im Nacken von Salman Rushdie». Und «Hamshahri» schreibt: «Attacke auf den Autoren der ‹Satanischen Verse›».

Der Anschlag auf Schriftsteller Salman Rushdie löste in der westlichen Welt Entsetzen aus. Die iranische Zeitung «Vatan-e Emrooz» titelte am 13. August: «Messer im Nacken von Salman Rushdie». Und «Hamshahri» schreibt: «Attacke auf den Autoren der ‹Satanischen Verse›».Bild: keystone

Ein öffentlicher Protest wurde kürzlich mehreren iranischen Filmemachern zum Verhängnis. Berlinale-Gewinner Jafar Panahi («Taxi Teheran») wurde gerade erst zu sechs Jahren Haft verurteilt. Warum geraten Kulturschaffende im Iran so stark unter Druck?
Seit dem Antritt von Präsident Raisi hat sich die Lage für iranische Kulturschaffende deutlich verschlechtert. Die Regierung sucht eine grössere Nähe zum Machtzentrum des vom Revolutionsführer Chamenei vertretenen Revolutionsregimes. Für Kulturschaffende bedeutet dies eine Zunahme an Repression, Überwachung und Zensur. Ein Hintergrund dürfte sein, dass die Kulturschaffenden Sprachrohr und Katalysator einer in der Gesellschaft weitverbreiteten Missstimmung sind. Beim Protest der Filmemacher ging es um den Einsturz eines Wohngebäudes in der Stadt Abadan, der durch Korruption und Planungsfehler verursacht wurde. 40 Menschen wurden getötet. Die Kulturschaffenden geben dem Unmut des Volks eine Stimme, die auch international gehört wird. Mit seinem Feldzug gegen prominente Dissidenten aus der Kulturszene will das Regime zeigen, welches Risiko jene eingehen, die sich zu Protesten gegen das Regime herausgefordert fühlen.

Zirkulieren weitere Fatwas, die den Tod einer Künstlerin oder eines Künstlers fordern?
Derzeit kenne ich keine amtlichen oder staatlichen Verfügungen, die den Tod einer Künstlerin oder eines Künstlers islamisch rechtfertigen oder islamisch fordern. Aber es gibt viele Fälle, in denen staatliche Behörden wie in Saudi-Arabien, in den Emiraten oder neuerdings in Afghanistan Kulturschaffende rechtlich und politisch verfolgen. Einzelne Personen nehmen sich auch das Recht heraus, Kulturschaffende für unislamisch zu erklären. So passiert bei der afghanisch-kanadischen Sängerin Aryana Sayeed, die in einem Zeitungsinterview von einem Religionslehrer der Taliban 2021 für vogelfrei erklärt wurde.

Wird im Iran blasphemische Literatur geduldet?
Über Jahrhunderte hinweg wurden im Iran künstlerische Werke vor allem nach ästhetischen Kriterien bewertet und nicht nach ihrem Inhalt. Ein Beispiel: Anfang des 19. Jahrhunderts fand in Teheran ein Dichtertreffen statt, an dem auch islamische Gelehrte teilnahmen. Ein Dichter trug Verse vor, die sofort als blasphemisch erkannt und verstanden wurden. Sie wollten den Dichter für seine Verse nicht ahnden, weil sie so «schön» gewesen seien. Im Grunde wird diese Tradition bis heute fortgesetzt. Die vor Chomeinis Fatwa erschienenen iranischen Kritiken zu Rushdies Roman waren ganz auf diese Frage der Ästhetik ausgerichtet. Selbst die konservative Zeitung «Keyhan» erachtete den Roman als misslungen, weil er ästhetischen Bedingungen nicht genügte.

Die Ermordung von Filmemacher Theo van Gogh 2004, der Protest gegen die dänischen Mohammed-Karikaturen 2005, der Anschlag auf die Satirezeitschrift «Charlie Hebdo» 2015 machen deutlich: Zwischen islamischem Fundamentalismus und westlicher Satire gibt es viel Reibungsfläche. Warum?
Das Besondere an Chomeinis Fatwa war ja, das hier die religiöse Institution eines Staates muslimische Gläubige dazu ermächtigen wollte, die Exekutive eines religiösen Willens zu sein. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat sich die Situation grundsätzlich geändert. Im Rahmen der neu aufkommenden ultrareligiösen Deutung des Islams, etwa im Gefolge der Vorläuferorganisationen des sogenannten «Islamischen Staates», haben Attentäter damit angefangen, sich selbst Freibriefe zum Töten auszustellen. Diese Selbstermächtigung beruht auf einer tief sitzenden Abneigung gegenüber dem Westen. Diese Menschen deuten die satirische Darstellung des Islam als Hegemonialanspruch des Westens über ihre Religion. Das Karikaturhafte der Kritik wird von ihnen als herabsetzende Schmähung gedeutet.

Der Westen attestiert dem Islam oft Humorlosigkeit. Ein Fehlurteil?
Lachen spielt in den islamischen Traditionen eine wichtige Rolle. Es dient dazu, sich das Leben leicht zu machen, sich durch Lachen zu helfen, das Gegenüber vor Peinlichkeit zu bewahren. In vielen arabischen Texten aus dem Mittelalter wird das so beschrieben. Im Kontext der Islamischen Revolution im Iran ging diese Fähigkeit verloren. Da ist eine Ernsthaftigkeit entstanden, die von Künstlerinnen und Künstlern gern ironisiert und karikiert wird. Wenn ich mich im Iran aufhalte und mit den Leuten spreche, habe ich den Eindruck, dass die Leichtigkeit, mit der man im 19. und frühen 20. Jahrhundert noch die Welt künstlerisch und spielerisch gedeutet hat, mehr und mehr verloren geht. In der Türkei beobachte ich eine ähnliche Entwicklung.