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Abwanderung in Portugal: Drei Frauen retten ein Bergdorf

Globale Gesellschaft

In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.

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Die Glut knistert im Steinofen, Rauch zieht durch den alten Schornstein, da quietscht die Tür. Eine ältere Frau mit kastanienbraunem Kurzhaarschnitt und markanten Schneidezähnen schaut neugierig durch den Spalt. Scheu fragt sie: »Ich wollte nicht stören, aber seid ihr am Backen?«

Fünf Minuten später sitzt sie auf einem alten Stuhl, in der Hand ein Butterbrot, im ganzen Raum ihre helle Stimme. »Das ist immer so mit ihr«, sagt Raquel Lucas und knetet weiter den Teig. »Lurdes ist anfangs so schüchtern, dabei gäbe es das alles ohne sie nicht.«

Mehr als drei Jahrzehnte Altersunterschied trennen die beiden Frauen. Sie sind Mitstreiterinnen, damit das Bergdorf Aigra Nova nicht stirbt. Ein Trio eigentlich, die dritte, Lurdes Lopes, kümmert sich gerade nebenan um ein großes Glas mit selbst gemachter Tomatenmarmelade.

Lurdes Lopes (links) und Raquel Lucas in der Backstube des Dorfes. Beide arbeiten für den kleinen Verein, der das Dorf am Leben hält

Foto: Gonçalo Fonseca / DER SPIEGEL

Aigra Nova liegt im Hinterland von Coimbra; die Probleme, die es hier gibt, teilen viele Orte in Portugal

Foto: Gonçalo Fonseca / DER SPIEGEL

Dorfretterin Lopes (rechts) mit Besuch beim Brotbacken

Foto: Gonçalo Fonseca / DER SPIEGEL

Die waldreiche Region im Hinterland von Coimbra ist wunderschön, aber zunehmend menschenleer. Inzwischen gibt es Dörfer, die eigentlich nur noch auf der Landkarte existieren. Die Jungen fliehen auf der Suche nach Arbeit, die Alten sterben. So ist es in vielen ländlichen Regionen. Doch nirgendwo in Westeuropa schrumpft die Bevölkerung so rasch wie hier im Herzen von Portugal. In den vergangenen hundert Jahren sank die Einwohnerzahl um zwei Drittel.

Mit den Menschen verschwinden auch ihre Traditionen, ihre Erinnerungen und Geschichten. Vor bald 20 Jahren beschlossen einige Einheimische, sich diesem Trend entgegenzustellen. Der kleine Verein »Lousitânea – Liga de Amigos da Serra da Lousã«, die Vereinigung der Freunde des Lousã-Gebirges, kümmerte sich anfangs um Wanderungen und Feste. Bald wurde daraus ein Rettungsprogramm für eine ganze Region, eine Mischung aus Heimatverein und Touristenförderung, mit Geld aus umliegenden Gemeinden und von der EU.

Lurdes Lopes und Raquel Lucas arbeiten für den Verein, sie betreiben einen Dorfladen, kümmern sich um Gäste, ein kleines Museum und organisieren Touren und Veranstaltungen.

Lurdes wollte nichts retten, als sie mit ihrem Mann wieder hierherzog. Sie wollte zurück zu ihren Ziegen. »Eigentlich wollte er«, korrigiert sie und schiebt stumm ihren Unterkiefer nach vorn. Im März ist er gestorben, kurz darauf folgten ihre Mutter und eine Tante. Seitdem ist Lurdes die letzte ständige Bewohnerin von Aigra Nova.

Sie und ihr Mann lebten mit den Söhnen lange unten im Tal. Er war Lkw-Fahrer, sie Hausfrau. Als er in Rente ging, kamen sie wieder. Vom Ende des Dorfes will die 67-Jährige jedoch nichts wissen, und es wäre ihr ganz recht, die Einsamkeit auch nicht groß zu thematisieren, so schlimm sei es nämlich nicht, sagt sie, und wer wisse schon, wer diesen Text liest. Deshalb auch nur der Vorname.

Die 67-jährige Lurdes ist nach dem Tod ihres Mannes, ihrer Mutter und einer Tante die letzte Bewohnerin

Foto: Gonçalo Fonseca / DER SPIEGEL

Über sich selbst redet sie nur ungern, erst als es ums Dorf geht, entspannen sich langsam ihre Gesichtszüge

Foto: Gonçalo Fonseca / DER SPIEGEL

Eine feste Bewohnerin, zwei Angestellte und Sommergäste – kann ein Dorf so überleben?

Lurdes, die Jüngere, sagt wieder in der Küche, natürlich seien alte Leute das Herz der Gemeinschaft. Der Kern der Geschichte, die Grundlage für das alles hier. Der Mann der älteren Lurdes zeigte beispielsweise den Anderen, wie man aus Korkrinde Masken schnitzt. Damit seien sie früher im Frühjahr durchs Dorf gerannt, um das Ende des Winters zu feiern, die Kälte wieder loszuwerden. »Die Geister vertreiben«, ergänzt seine Witwe.

Heute gibt es diese Tradition wieder, ohne die Alten wäre sie nicht mehr bekannt. Doch noch wichtiger, sagt Raquel Lucas, seien eigentlich die Gäste, neugierige Besucher. Manche von ihnen wohnen mehrere Monate hier, andere kommen immer wieder. Im Internet kann man die renovierten Wohnungen in sonst leer stehenden Häusern anmieten. Gerade sind zwei Niederländer und eine Amerikanerin zu Besuch.

»Sie können nur Hallo und Danke«, sagt die alte Lurdes, »aber das reicht mir eigentlich auch. Wenn ich wollte, könnte ich jederzeit zurück in die Stadt. Aber dort wäre ich allein unter vielen. Hier bin ich in Gesellschaft von wenigen.«

Die meisten Einwohner des Dorfes sind heute Ziegen, 16 davon hält Lurdes auf einer Weide am Ortsrand

Foto: Gonçalo Fonseca / DER SPIEGEL

Die Landwirtschaft spielte einst eine wichtige Rolle, noch heute ist Essen ein verbindendes Element

Foto: Gonçalo Fonseca / DER SPIEGEL

Trotz der neuen Gäste bleibt der Ort ein einsames Bergdorf

Foto: Gonçalo Fonseca / DER SPIEGEL

Die auswärtigen Besucher, die hier hoch ins Dorf kommen, leben ganz nah mit den drei Frauen. Das Kochen ist ein wichtiges Element unserer Arbeit, sagt Raquel und zeigt auf den Teig. Heimat, versteht man schnell, ist oft nicht nur ein Ort, sondern auch Essen. Essen kann man teilen – sieht man es so, ist Aigra Nova immer noch ein sehr lebendiger Ort.

Das frische Brot mit etwas Chouriço im Teig entsteht nach einem alten Rezept, die Tomatenmarmelade ist eine regionale Köstlichkeit. Sie schmeckt süß und herzhaft zugleich, sehr sämig. Gerade backen sie fingerdicke Ziegenmilchkekse, am nächsten Tag hat sich eine israelische Familie angekündigt. Nachdem die Portugiesen jahrhundertelang in alle Welt zogen, kommt die Welt nun zu ihnen.

Für Aigra Nova scheint das Konzept zu funktionieren. Inzwischen ist das Dorf ein kleines Vorbild, das international auf Tourismusmessen gelobt wird. Auch einige benachbarte Schieferdörfer wurden so wiederbelebt, alle verbindet die Bauart der Häuser und dieselben Probleme. Jeder Ort hat nun einen etwas anderen Fokus, Kultur, Kunsthandwerk, Wandern.

Lurdes Lopes im Gewächshaus, hier wachsen Bäume für eine Aufforstungsaktion mit Benefica Lissabon

Foto: Gonçalo Fonseca / DER SPIEGEL

Der portugiesische Fußballverein Benfica Lissabon sponsert inzwischen die Wiederaufforstung der lange vernachlässigten Wälder um das Dorf. Auch das gehört zu den Aufgaben von Lurdes Lopes und Raquel Lucas, täglich kümmern sie sich in einem kleinen, etwas verwilderten Garten um die Setzlinge. Freiwillige zahlen zehn Euro im Jahr, um hier selbst einen Baum pflanzen zu dürfen. Die Partnerschaft mit Benfica fördert den Naturschutz, vor allem aber den Austausch. Viele Schulkinder, die sonst kaum Interesse hätten, kommen so plötzlich ins Hinterland ihrer Heimat.

Natürlich gibt es auch Schwierigkeiten, im Winter pfeift der Wind bitter durch die Gassen. Trotz aller Erfolge ist Aigra Nova immer noch ein einsames kleines Bergdorf. Vielleicht hätte man es einfach auch – wie in vielen anderen Ländern – abbauen, auf Lkw verladen und in einem Freilichtmuseum nahe einer Großstadt wieder aufbauen können. Für etwas Eintritt könnten Besucherinnen dann auf Tafeln nachlesen, wie das Leben von Lurdes und ihren Vorfahren einmal verlief. Vielleicht würden Museumspädagogen von Zeit zu Zeit Brot backen.

Lurdes ist die letzte aus ihrer Familie im Dorf, die Söhne leben in der Stadt

Foto: Gonçalo Fonseca / DER SPIEGEL

Aber will man das? Der Verein der Freunde des Lousã-Gebirges hat den umgekehrten Weg gewählt, das Dorf dort gelassen, wo es steht, seine ehemaligen Bewohner eingeladen und Interessierte gleich mit. Es gibt jetzt einige Wandertafeln, den Dorfladen, neue Laternen und eine breitere Straße. In einem der unbewohnten Schieferhäuser ist ein einfaches Museum. Doch das meiste, sagen die drei Frauen, werde hier immer noch mündlich weitergegeben, beim Brotbacken oder Schnapstrinken. Vielleicht auch an der Weide mit den 16 Ziegen von Lurdes.

Den Arztmangel, sagt die 67-Jährige, kurz nachdenklich, werde in einem Dorf mit einer dauerhaften Bewohnerin auch der Verein nicht beheben können. »Aber was ist das schon ein Problem, angesichts des schönen Lebens hier? Ich habe noch die Jahre, die ich habe, und die will ich hier verbringen.« Vielleicht kommen ja noch ein paar ehemalige Bewohner, wenn sie in Rente sind. »Solange es Interesse an Aigra Nova gibt, wird das Dorf weiterleben«, sagt Raquel Lucas, und die beiden Lurdes nicken. Sie wirken zufrieden.

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft