Gleichzeitig da sein, aber auch schon fort, fort, vielleicht aber auch noch hier - dieser Zwischenzustand eint die Vermissten von MH370 und den Vater von Helgard Haug, der an Demenz erkrankt ist. Was nach willkürlicher Vermischung klingt, erweist sich als berührendes Leseerlebnis.
Ein Vater und ein Flugzeug verschwinden, zeitgleich und mit einer Wucht, die das menschliche Maß zu überschreiten droht. Es ist der Vater der Regisseurin und Autorin Helgard Haug. Neuerdings drehen sich die Gespräche mit ihm im Kreis, er wird vergesslich. Noch wird das ungeheuerliche D-Wort nicht ausgesprochen. Das Flugzeug ist MH370, eine Boeing 777, die von Kuala Lumpur nach Peking fliegen soll und dort nie ankommt.
Im Frühjahr 2014 fallen diese beiden Ereignisse zusammen, seitdem entwickeln sich die Verschwindensprozesse parallel. Der Vater schreibt dem Enkel Geburtstagskarten, vier zu einem Geburtstag. Ihm fällt die eigene Vergesslichkeit auf, die Tochter stellt eine "merkwürdige Mischung aus Klarheit und Verwirrung" fest.
Die Passagiere und Besatzungsmitglieder von MH370 fliegen in die Nacht, der Flug mit 239 Menschen an Bord wird von Kontrollpunkt zu Kontrollpunkt weitergegeben. Bis sich der Kapitän mit den Worten "All right. Good night" aus dem malaysischen Luftraum verabschiedet, um sich danach nie wieder zu melden.
Was ist schon eindeutig?
Haugs Vater hat schon vor Jahren eine Demenz-WG in seinem Haus gegründet. Wie kann ein Leben im Alter aussehen, die Frage trieb ihn lange vor der Erkrankung um. Es ist ein Versuch, sich auf Eventualitäten einzustellen, die eintreffen könnten und nun plötzlich Realitäten werden. Doch die Vorbereitung nutzt ihm nicht viel, es ist schwer, die Erkrankung anzuerkennen, selbst, wenn die Diagnose eindeutig ist.
Das verbindet ihn mit den Angehörigen der Menschen an Bord von MH370. Ist eine Ölspur Beweis genug für den Absturz oder erst das Wrackteil, das später gefunden wird? Ein Mann, dessen Frau und zwei seiner Kinder von Kuala Lumpur nach Peking flogen, räumt zusammen mit dem letzten verbliebenen Sohn die Wohnung der Familie aus. Es ist kaum zu schaffen, über allem schwebt die Frage: Was werden die anderen denken, wenn sie zurückkommen?
Der Vater hält seine Geburtstagsrede kraftvoll und energisch dreimal hintereinander, er stürzt häufiger, übergibt Aufzeichnungen zur Familiengeschichte, verkauft eine Wohnung und vergisst es sofort wieder. Die Angehörigen müssen mit der Rätselhaftigkeit und Unbestimmtheit der Situation umgehen. Immer weniger Handlungen und Worte sind von der Vernunft gedeckt.
Uneindeutiger Verlust
"All right. Good night" war zunächst ein Theaterstück und ein Hörspiel, bevor es ein Roman wurde. Im Roman verschränkt Haug die teilweise technischen Erkenntnisse zu MH370 immer wieder mit sehr persönlichen Erinnerungen an den Vater. Lange bleiben das Schicksal des Flugzeugs und seiner Passagiere im Ungewissen, ebenso wie die Entwicklung der Krankheit des Vaters, obwohl es wenig Zweifel am Ausgang der Ereignisse geben kann.
Das Begreifen-Wollen beschäftigt alle Beteiligten. Haug führt die Theorie vom ambiguous loss ein, den Zustand eines "uneindeutigen Verlustes". Der Vater, wie auch die Passagiere, sind gleichzeitig da, aber eben auch schon fort, fort, vielleicht aber auch noch hier. Diese ebenso intellektuelle wie emotionale Durchdringung von kaum aushaltbaren Umständen, machen Haugs Roman ungemein lesenswert.
Der 7. Jahrestag des Verschwindens von MH370 fällt in die Corona-Pandemie, so wie der Tod des Vaters. Haltet Kontakt, hatte der Vater gebeten, als er merkte, wie er verschwand. Und "versucht zu verstehen und, wo nötig, zu verzeihen". Man ahnt, dass das irgendwie auf jedes Leben zutrifft.