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Bald wird es heiß hergehen

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

wir brauchen mehr Tempo! Es geht zu langsam! Die Trägheit ist schwer erträglich!

Worüber ich mich aufrege? Über die Natur. Jahrzehntelang hängt das Treibhausgas Kohlendioxid in der Atmosphäre herum. Selbst das klimafreundlichste Verhalten schlägt sich erst nach einer Ewigkeit in der Abflachung der Temperaturkurve nieder. Geht das nicht ein bisschen schneller?

Da müsste man doch mal was erfinden. Nicht nur Qualm und Abgase einsparen, sondern das überschüssige Kohlendioxid aus der Luft wieder herauswurschteln – vielleicht mit riesigen Maschinen? Wissenschaftler tüfteln bereits an neuen Hi-Tech-Methoden, um das CO2, das wir in die Atmosphäre geblasen haben, wieder einzufangen. Doch die Wundermaschinen stecken noch in den Kinderschuhen. Bis sie das Reißbrett verlassen, ist uns schon mächtig warm geworden. Der technische Fortschritt hilft uns erst mal nicht aus der Patsche.

Aber vielleicht brauchen wir den auch gar nicht. Schließlich verfügen wir bereits über ein effizientes, im großen Maßstab nutzbares, außerdem kostengünstiges Verfahren zur CO2-Extraktion aus der Luft: Bäume. Die helfen schon, wenn sie nur dastehen, und ihre Vermehrung hilft noch mehr. Jeder gepflanzte Setzling zieht im Laufe seines Wachstums kräftig Kohlendioxid aus der Umgebung und verwandelt es in Biomasse. Jedes Mal, wenn wir bei der Buchung eines Fluges auf ein kleines Häkchen klicken, das den Ausgleich der Flugbenzinschwaden durch neue Baumpflanzungen verspricht, darf uns deshalb ein wohliges Gefühl durchfluten. Bäume pflanzen, Wälder wachsen lassen: Das funktioniert schließlich immer.

Tatsächlich werden die gepflanzten Bäume als realer Beitrag zum Klimaschutz verbucht. Nur müssten eigentlich regelmäßig die Rechnungsprüfer auftauchen und die Zahlen korrigieren – und zwar nach unten. Wie sich herausstellt, ist das Pflanzen von Bäumen nämlich nicht die richtige Messgröße zur weiteren Verwendung auf dem Papier. Sondern erst das Wachsen und Gedeihen. Wenn Wissenschaftler nachschauen, wie die Sache mit den Setzlingen weitergegangen ist, sind die meisten Bäume nämlich nicht mehr da. Eingegangen, gestorben, futschikato – fürs Klima zu nichts mehr nutze, zum Schönrechnen aber schon. Man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht, sagt das Sprichwort, aber das stimmt eben nicht immer. Ohne Bäume sieht man nämlich auch keinen Wald.

Die Liste gescheiterter Aufforstungsprojekte ist lang und deprimierend. Manchmal geht es dabei nur um vordergründige PR. Rekorde im Setzen von Setzlingen werden gebrochen, mal pro Stunde, mal pro Tag. Zur Belohnung gibt es jubelnde Schlagzeilen und einen Eintrag im Guinness-Buch der Rekorde. Später, wenn die Fotos im Kasten sind, kümmert sich keiner mehr groß um die Sache, und die Setzlinge sterben in Frieden.

Mangelnde Nachsorge ist einer der Gründe, warum aus den Bäumchen all der Aufforstungsprogramme kein Wald werden will. Hauptsache, es wird gepflanzt und die begrünten Quadratmeter können einmal vermeldet werden. Noch schlimmer ist es, wenn die Menschen vor Ort weder gefragt noch einbezogen und für den Wuchs vor ihrer Tür nicht gewonnen werden. Dann stehen die Bäume zum Beispiel auf dem Weideland des Dorfes, und dort stehen sie nicht lange. Oder sie enden als Feuerholz, wenn sie keine Früchte tragen.

Schlimmes hat auch die vorschnelle Auswahl der falschen Baumsorte bewirkt: Die Pflanzung einer Mangrovenart, die für Gegend und Boden zwar nicht passt, aber leicht verfügbar ist, kann blitzschnell frisches Grün an einer tropischen Küste sprießen lassen, ohne dass es starke Wurzeln schlägt. Wind und Wellen radieren die Pracht dann ruckzuck wieder aus. Nicht umsonst beschreiben Wissenschaftler Naturlandschaften als Ökosysteme, deren Bestandteile in gegenseitiger Abhängigkeit voneinander existieren – und nicht als Lagerregale, in die man eine neue Baumsorte einfach mal reinpacken kann.

Heißt das also, dass CO2-Kompensationsprojekte Quatsch sind und wir von der komplizierten Wiederaufforstung der Erde besser die Finger lassen? Nein, im Gegenteil: Ohne wachsende Wälder wird es auf unserem Planeten heiß hergehen. Aber die schlampige Vorbereitung, laxe Nachsorge und luschige Erfolgskontrolle der Anpflanzungsprojekte kann sich die Menschheit nicht mehr leisten. Die zuständige Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen hat den Knall immerhin gehört und sich eine genauere Buchführung verordnet – doch der Initiative fehlt der Biss: Wie oder ob überhaupt Daten erhoben werden und wie aussagekräftig die sind, ist nach wie vor dem Gutdünken jedes einzelnen Staates überlassen. Beruhigende Statistiken über den grünen Ausgleich wird es also auch in Zukunft geben. Längst abgestorbener Phantomwald oder echter neuer Wuchs: Die Unterscheidung wird schwierig bleiben.

Damit sich das ändert, gehört mehr Wumms dahinter, als ihn eine UN-Unterorganisation zuwege bringen kann. Die großen Akteure im Geschäft mit reinwaschenden Zertifikaten müssen darauf bestehen, dass diese Zertifikate auch etwas bedeuten. Die Wirtschaftswunderländer des Westens haben den Großteil der globalen Klimamisere zu verantworten, weil sie seit Beginn der Industrialisierung so viel Dreck in die Atmosphäre gepustet haben, dass uns ganz heiß wird. Genauso müssen die Verursacher jetzt dafür sorgen, dass die Versuche der Reinwaschung nicht nur das eigene Gewissen läutern, sondern auch die Luft.

Die Wiederbegrünung erheblicher Teile des Planeten ist kein Wohlfühlprogramm für Vielflieger und Umweltbewegte. Auch das sorgfältige Verbuchen von Zertifikaten in einem verselbständigten Bürokratieprozess spielt am Ende keine Rolle. Gelingt es uns tatsächlich, der Atmosphäre genügend Treibhausgase zu entziehen? Es kommt einzig und allein auf das Ergebnis an. Diese Erkenntnis muss leider auch noch baumhoch wachsen.