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Bertone-Design seit 1912: Futuristische Formen, die die Autowelt veränderten

Maestro Nuccio Bertone schrieb Designgeschichte. Er zeichnete nichts selbst, aber kreierte automobile Mode für Millionen. So entstanden bei Bertone Keilformen für Supercars und elegante Kanten für Massenmarken von Alfa bis VW. 1912 wurde die Carrozzeria Bertone in Turin gegründet.

Bertone - bei diesem Namen denken Designfans an dramatische Keilformen, wie sie den Lamborghini Countach, Maserati Khamsin oder Fiat X1/9 kennzeichnen. Auch die klaren Kanten stilprägender Concept Cars wie BMW Garmisch, Volvo Tundra oder Mazda MX-81 stammen aus der im November 1912 in Turin gegründeten Carrozzeria Bertone. Vor allem aber war es Haute Couture für Massenmodelle, mit der Starcouturier Nuccio Bertone ab den 1950er Jahren Designgeschichte schrieb.

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1954: Präsentation der Alfa Romeo Giulietta Sprint auf dem Turiner Salon. Aus ursprünglich 1000 geplanten Einheiten werden bis zum Jahr 1965 knapp 40.000 des bei Bertone gebauten Coupés.

(Foto: Alfa Romeo/Stellantis)

Ob Alfa, Audi, Citroën, Lancia, Opel oder VW, mit dem gleichermaßen kreativen wie mutigen Designhaus Bertone wollten viele Marken zusammenarbeiten - und Japaner wie Mazda erzielten erst mit in italienischer Leichtigkeit gezeichneten Limousinen globale Erfolge. Nur Ferrari konnte Bertone trotz aller Bemühungen nicht als Kunden gewinnen, der Supercar-Bauer aus Maranello vertraute konsequent auf die künstlerische Expertise von Pininfarina.

Tatsächlich zeichnete Nuccio Bertone kein einziges seiner Meisterwerke selbst, der gefeierte Maestro konzentrierte sich stets darauf, Nachwuchsdesigner zu entdecken und aufzubauen. Klangvolle Namen wie Franco Scaglione, Giorgetto Giugiaro, Marcello Gandini oder Marc Deschamps, viele Stardesigner zündeten ihre Karriere bei diesem Karossier. Nuccio Bertone selbst aber wurde für seinen Einfluss auf die automobile Mode mit Ehrentiteln überschüttet und seine Werke schon 1977 auf der Kasseler Documenta als utopische Kunstobjekte gefeiert.

Keine Science-Fiction, sondern Serienautos

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Der BMW 3200 CS, von 1962 vom Bertone-Designer Giorgetto Giugiaro gezeichnet.

(Foto: BMW)

Dabei verkörperten die visionären Bertone-Stilstudien oft genug keine Science-Fiction, sondern kommende Serienautos. So übrigens auch die in Kassel gezeigten Entwürfe Stratos 0 und Stratos HF, die damals bereits als Lancia Sportwagen in Serie gegangen waren.

Realisiert hatte diese schnellen skulpturalen Keile Jahrhundertdesigner Marcello Gandini, der seit 1965 bei Bertone tätig war und die Carrozzeria Bertone in eine goldene Ära führte als damals progressivstes Designstudio. Gandinis radikale Konzepte begeisterten Bertones Kunden und mündeten nicht selten in einigen der herausragendsten Supercars, die je auf Straßen und Automobilsalons zu sehen waren.

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Unter Gandini entstehen Meisterwerke wie Lamborghini Miura aus dem Jahr 1966.

(Foto: Lamborghini)

Ob Lamborghini Miura, Marzal, Espada oder Alfa Romeo Carabo und Montreal in den 1960ern oder Lamborghini Countach und Lamborghini Bravo in den 1970ern, diese Autos schrieben Designgeschichte. Und diese Entwürfe vermittelten Nuccio ein felsenfestes Vertrauen in die Zukunft, sogar in den Jahren nach der ersten Ölkrise, als manche Supercar-Manufaktur - darunter auch sein Kunde Lamborghini - insolvent wurden. Schließlich hatte Bertone von Beginn an ein zweites Standbein: Die Produktion kleiner und größerer Auflagen für Kunden wie Fiat, Lancia, Alfa und später auch Volvo, Daihatsu oder Opel.

Werkstatt 1912 von Stellmacher Bertone eingerichtet

Genauso war 1912 die vom Stellmacher Giovanni Bertone eingerichtete Werkstatt auf Erfolgskurs gegangen, allerdings ging es in den ersten acht Jahren noch um stilvolle Aufbauten für Kutschen. In den 1920er Jahren trafen dann die ersten Aufträge von Automobilfirmen ein und Bertone erwarb sich bald einen Namen als Spezialist für stilvolle Designs und in höchster Handwerkskunst gebaute Karosserien, vor allem für sportliche Fiat und Lancia.

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Ebenfalls ein Gandini ist der Lamborghini Countach aus dem Jahr 1971.

(Foto: Lamborghini)

Der hochtalentierte Sohn und Nachfolger Giuseppe - vom Vater liebevoll "Nuccio" genannt - übernahm bereits 1933 als 19-Jähriger eine leitende Position in der aufstrebenden Carrozzeria und 1950 den ganzen Betrieb. Kurz darauf kam die erste Krise, die Bertone nutzte, um seine Firma neu zu erfinden. Das Aufkommen der selbsttragenden Karosserie beendete für viele Manufakturen das Geschäft mit nach individuellen Wünschen wohlhabender Kunden maßgeschneiderten Fahrzeugaufbauten. Nuccio Bertone besann sich nun auf seine Fähigkeiten als Netzwerker, knüpfte Kontakte zu Autobauern und aufstrebenden Couturiers. Als erfolgreicher Freizeit-Rennfahrer begeisterte er sich zudem für aerodynamische Formen, diese wollte er für Volumenhersteller in Serie bauen.

Fundament für Aufstieg

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Der Fiat X1/9 wurde nicht nur von Bertone designt, sondern ab 1972 außerdem von Bertone gebaut.

(Foto: Fiat)

In Franco Scaglione fand Bertone 1951 einen freien Designer, der für Bertone britische MG Sportwagen und ein Abarth Coupé einkleidete, vor allem aber das betörend schöne Alfa Giulietta Sprint Coupé realisierte, das als Auftragsarbeit bei Bertone in beachtlicher Stückzahl gebaut wurde. Das Fundament für den Aufstieg war gelegt, Nuccio Bertone, selbst stets im eleganten Anzug mit Einstecktuch auftretend, zählte plötzlich zu den ersten Designadressen im Nachkriegseuropa.

Ob Concept Cars für Alfa Romeo, wie die spektakulären BAT-Modelle, Entwürfe für Aston Martin (DB2), Maserati (3500) oder Serienautos wie Jaguar XK 150, NSU Sport Prinz, Simca 1000 Coupé oder BMW 3200 CS, die Anfragen übertrafen zeitweise die Kapazitäten des Designateliers und des neu gebauten Werks in Grugliasco. Franco Scaglione wurde dies 1959 zu viel und so suchte Nuccio Bertone einen Nachfolger. Einmal mehr hatte das Talentscout das richtige Gespür: Giorgetto Giugiaro lieferte gleich zu Beginn seiner Karriere mit den Entwürfen für den Corvair Testudo und Ferrari 250 GT zwei Hochkaräter ab, die Nuccio Bertone prompt beide als Privatwagen nutzte.

Begehrtes Bertone-Signet

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Auch der Audi 50 von 1974, ab 1975 auch als VW Polo gebaut, stammt von Bertone.

(Foto: Audi)

Nun begehrten immer mehr Firmen das Bertone-Signet an ihren Fahrzeugen, allen voran traditionell Alfa Romeo an Coupés wie dem 2600 Sprint. Aber auch Mazda ließ sein erstes globales Erfolgsmodell Luce 1500/1800 sowie das 1969 lancierte leistungsstarke Wankelmotor-Coupé R130 Luce in Italien elegant einkleiden.

Als höchst profitabel erwiesen sich weiterhin Bertones Produktionsanlagen, denn dort rollten Bestseller wie die Alfa Giulia GT (ab 1963), der Fiat 850 Spider (ab 1965) oder der Mittelmotor-Runabout Fiat X1/9 (ab 1972) vom Band. Da hatte Giugiaro das Büro des Designdirektors bereits Marcello Gandini übergeben, aus dessen Zeichenstift nicht nur visionäre Sportwagen hervorgingen, sondern auch bezahlbare Großserienmodelle wie der Audi 50, der verwandte VW Polo, und sogar noch der Citroën BX von 1982. Zu dieser Zeit hatte Gandini schon Bertone verlassen und es lag an Marc Deschamps, futuristische Formen für die 1990er Jahre zu finden, umgesetzt etwa im Citroën XM.

Verlängerte Werkbank vieler Hersteller

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Volvo ließ seine Coupés 262 (im Bild) und 780 in Italien montieren.

(Foto: Volvo)

Bertone etablierte sich nun mehr und mehr als verlängerte Werkbank vieler Hersteller: Volvo ließ seine Coupés 262 und 780 in Italien montieren, Opel gab Kadett Cabrio und später den offenen Astra in Auftrag. Dann kam es zur Katastrophe: Nuccio Bertone verstarb im Frühjahr 1997 und kurz danach begannen Bertone-Kunden, ihre Coupés und Cabrios im eigenen Haus produzieren. Die Carrozzeria Bertone kollabierte finanziell, eine Transformation zum Think-Tank für Design scheiterte 2014 endgültig.

Wie sich Bertone von Wettbewerbern differenzierte, erklärt Experte Martin Heinze von der Oldtimer-Bewertungsorganisation Classic Analytics: "Während Konkurrent Pininfarina stets für zeitlose Eleganz stand, wagte Bertone häufig einen modernen bis futuristischen Stil. Bestes Beispiel ist wohl bis heute der Lamborghini Countach, der fast ausschließlich aus Ecken und Kanten besteht. Für die erste Serie dieses Designklassikers muss man im guten Zustand etwa 800.000 Euro bezahlen."

Chronik

1884: Giovanni Bertone wird als sechster von sieben Söhnen eines italienischen Bauern geboren und absolviert später eine Ausbildung zum Stellmacher

1912: Im Alter von 28 Jahren gründet Giovanni Bertone im November in Turin ein Unternehmen für die Reparatur und Konstruktion von Kutschen. Neben Giovanni Bertone selbst gehören drei Mitarbeiter zu der Firma

1914: Der zweite Sohn von Giovanni Bertone, Giuseppe, wird am 4. Juli geboren. Von Geburt an erhält dieser den Spitznamen "Nuccio". Während des Ersten Weltkriegs ist Bertone gezwungen, seine Werkstatt zu schließen

1920: Neugründung des Unternehmens in der Turiner Via Monginevro mit anderem Schwerpunkt: Automobile

1921: Erster Auftrag für die Produktion von Automobilkarosserien, dies für einen Sportwagen der Società Ligure Piemontese Automobili (SPA)

1934: Giuseppe "Nuccio" Bertone steigt mit 19 Jahren in das väterliche Unternehmen ein, das rund 50 Mitarbeiter hat

1939: Während des Zweiten Weltkriegs ließ die Nachfrage nach Autos und vor allem nach exklusiven Kleinserienfahrzeugen der Karossiers drastisch nach. Trotzdem lief die Produktion im Werk Corso Peschiera (Lancia Aprilia, Fiat 2800 Cabriolet) weiter. Bis zum Kriegsende konzentrierte man sich bei Bertone aber vornehmlich auf den Bau von Militärfahrzeugen

1945: Nach dem Zweiten Weltkrieg übernimmt Nuccio Bertone das Familienunternehmen und stellt mehrere namhafte Designer ein. Sein erster Chefdesigner wurde Franco Scaglione, auf den später Giorgetto Giugiaro und 1965 Marcello Gandini folgten

1952: Erste Großaufträge der Nachkriegszeit von MG und Bristol

1953: Bertone gewinnt ein italienisches Motorsportchampionat mit einem selbst entwickelten Sportwagen auf Basis des Fiat 500 Topolino

1954: Präsentation der Alfa Romeo Giulietta Sprint auf dem Turiner Salon. Aus ursprünglich 1000 geplanten Einheiten werden bis zum Jahr 1965 knapp 40.000 des bei Bertone gebauten Coupés

1957: Bei Bertone wird nun auch die Karosserie für den NSU Sport Prinz gezeichnet und gefertigt. Die Gesamtproduktion übersteigt die Kapazitäten des Werks Corso Peschiera

1959: Ein Werk in Grugliasco (Provinz Turin) mit 550 Arbeitsplätzen wird in Betrieb genommen

1960: In diesem Jahr werden bei Bertone erstmals mehr als 31.000 Karosserien gebaut

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Auch den BMW 2002 ti Garmisch aus dem Jahr 1970 hat Bertone-Designer Marcello Gandini entworfen.

(Foto: BMW)

1965: Giorgio Giugiaro wechselt von Bertone zu Ghia und Nuccio Bertone engagiert den jungen Marcello Gandini als neuen verantwortlichen Designer. Unter Gandini entstehen Meisterwerke wie Lamborghini Miura, Marzal und Espada sowie Alfa Montreal und Carabo, Lacia Stratos Zero und Lamborghini Countach. Mit der Einführung des bei Bertone gefertigten Fiat 850 Spider entscheidet sich Nuccio Bertone für die Erhöhung der Produktionskapazitäten auf 120 Einheiten pro Tag. Bis 1972 wurden rund 140.000 Einheiten des 850 Spider gefertigt, die meisten für den US-Markt

1966: Nuccio Bertone heiratet Ermelinda, genannt "Lilli", die später die Unternehmensführung übernehmen wird

1970: Mittlerweile beschäftigt Bertone 1500 Mitarbeiter

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Eine weitere Gandini-Ikone ist der ab 1973 in Serie gebaute Lancia Stratos.

(Foto: Lancia/Stellantis)

1972: Im Alter von 88 Jahren stirbt der Unternehmensgründer Giovanni Bertone. Im gleichen Jahr läuft die Produktion des Fiat X 1/9 an, von dem rund 160.000 Einheiten gefertigt werden. Bertone erreicht in den 1970ern den Höhepunkt seines Einflusses auf das internationale Automobildesign, dies mit Entwürfen von Marcello Gandini. Mehr als 140 Fahrzeuge werden nun täglich in den Bertone-Werken karossiert, dies von rund 1500 Mitarbeitern

1977: Bertone darf seine Entwürfe für den Lancia Stratos 0 und für den Lancia Stratos HF auf der Kunstausstellung documenta 6 in Kassel zeigen

1979: Im Juni trennt sich Marcello Gandini von Bertone, der Franzose Marc Deschamps wird Nachfolger und designt unter anderem Lamborghini Athon und Corvette Ramaro sowie Lotus Emotion

1981: Anfang der 1980er-Jahre werden das Ritmo Cabrio und der X 1/9 bei Bertone produziert und sogar unter eigener Marke verkauft

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Opel gab das Kadett Cabrio und ab 1993 auch den offenen Astra bei Bertone in Auftrag.

(Foto: Opel)

1987: Beginn der Kooperation mit General Motors mit der Produktion des Kadett E Cabrios. Es folgen später zwei Generationen des Astra Cabrios (Astra F und G) und ein Astra Coupé (Astra G)

1989: Nuccio Bertone erhält die Ehrendoktorwürde des Art Center College of Design in Pasadena (USA) für seine Designarbeiten

1997: Am 26. Februar, dem Vorabend des Genfer Salons, stirbt Giuseppe "Nuccio" Bertone. Bertones Witwe Ermelinda übernimmt die Unternehmensführung

2006: Posthum wird Nuccio Bertone in die Automotive Hall of Fame in Detroit aufgenommen

2009: Das Werk in Grugliasco wird an Fiat verkauft

2012: Das Unternehmen Bertone feiert den 100. Gründungstag

2014: Bertone ist insolvent und wird liquidiert, alle Vermögenswerte werden veräußert

2022: Die Bertone-Community erinnert an den 110. Jahrestag der Unternehmensgründung