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„Dann kann man nicht Minister sein“ – So begründet Habeck die AKW-Reaktivierung

Eine Stunde bevor der grünen Bundeswirtschaftsminister an diesem 3. Oktober doch noch eingreift in die Schlussphase des Niedersachsen-Wahlkampfs, finden sich bei Twitter zwei Posts, die einen Teil der Stimmung, die Robert Habeck derzeit in den sozialen Netzwerken begegnet, ziemlich treffend zusammenfasst.

Tweet eins lautet: „Ich war jetzt im Schwimmbad und dort haben sie das Wasser um 2°C nach unten gedreht. Das ist dann schon unangenehm kühl und du kannst nicht solange im Wasser bleiben wie sonst. Das hat mich wütend gemacht. Die Begriffe #Habeck und Lynchjustiz kamen mir unwillkürlich in den Sinn.“

In Tweet zwei heißt es: „Wenn der #Blackout kommt, dann werden diese beiden Verbrecher #habeck und #baeebock evtl. Schuld sein am Tod von tausenden..und dann Gnade denen Gott. Die betroffenen werden keine Gnade kennen.“

Vielleicht muss man sich also nicht wundern, dass Niedersachsens Grüne den Vizekanzler bei seinem ersten und einzigen Auftritt im Niedersachsen-Wahlkampf regelrecht verstecken. Vor seinen entschiedenen Gegnern, aber daraus folgend eben auch vor seinen deutlich zahlreicheren Sympathisanten und Anhängern. Habecks Auftritt im hannoverschen Fußball-Biergarten „Nordkurve“ findet – aus Sicherheitsgründen, wie die Niedersachsen-Grünen erklären – quasi hybrid statt.

Der Wirtschaftsminister selbst redet vor ein paar Dutzend handverlesenen Parteimitgliedern und einigen Journalisten im geschützten Kneipenraum des Biergartens.

Das Publikum sitzt – nach Taschenkontrollen – draußen an den Biertischen und darf dem Auftritt des Ministers über jene Großbild-Leinwand zuschauen, auf der sonst die Spiele des örtlichen Fußball-Zweitligisten zu sehen sind.

„Public Viewing“ im Biergarten

Habeck-Fans beim „Public Viewing“ im Biergarten

Quelle: Ulrich Exner

Die Biertische und das Publikum sind nach außen wiederum durch Sichtschutz-Zäune eingehegt, vor denen sich eine Polizeikette aufgebaut haben.

Die Polizei vor dem Veranstaltungsort

Die Polizei vor dem Veranstaltungsort

Quelle: Ulrich Exner

Die Beamten sollen dafür sorgen, dass jene rund 100 Anti-Habeck-Demonstranten, die den Minister während der rund 90-minütigen Veranstaltung von der gegenüberliegenden Straßenseite her wechselweise als „Kriegstreiber“, „Volksverräter“ oder „grünen Faschisten“ beschimpfen, der Veranstaltung und dem Minister nicht noch näher auf die Pelle rücken.

Die Habeck-Gegner, die den Wirtschaftsminister wechselweise als „Kriegstreiber“, „Volksverräter“ und „grünen Faschisten“ bezeichneten

Die Habeck-Gegner, die den Wirtschaftsminister wechselweise als „Kriegstreiber“, „Volksverräter“ und „grünen Faschisten“ bezeichneten

Quelle: Ulrich Exner

Trillerpfeifen und Megafone bleiben also auf Distanz und stören nur noch das Publikum im Biergarten. Drinnen in der Kneipe der „Nordkurve“, bei Habeck und den beiden grünen Spitzenkandidaten Julia Willie Hamburg und Christian Meyer, ist von allem Getriller und Gejohle so gut wie nichts zu hören.

Es ist ein bizarres Wahlkampf-Szenario an diesem Einheitsfeiertag in Hannover. 15.000 Euro hat die Veranstaltung Niedersachsens Grüne wegen der umfassenden Sicherheitsauflagen des Bundeskriminalamts gekostet. Auch das, so Spitzenkandidatin Hamburg, sei ein Grund dafür, dass die Zahl der Veranstaltungen mit Berliner Spitzengrünen in diesem Landtags-Wahlkampf eher knapp ausfällt.

Habeck erklärt die vorübergehende Reaktivierung zweier Atomkraftwerke

Mit direkter Wählerwerbung hat Habecks hybrider Auftritt dann auch rein gar nichts mehr zu tun. Wenn es gut läuft, gelingt es zumindest, den niedersächsischen Wahlkämpfern noch ein wenig Rückenwind für die letzte Wahlkampfwoche mit auf den Weg zu geben. Ihnen vielleicht auch ein paar ernste grüne Zweifel zu nehmen an der Krisenpolitik der Ampelregierung, die mit Abstand das wichtigste, alle polarisierende Thema ist in diesem Niedersachsen-Wahlkampf.

Habeck, das liegt angesichts der äußeren Umstände nahe, erklärt seinen Parteifreunden erst einmal ausführlich die Gründe für seinen neuesten Politik-Schwenk, die vorübergehende Reaktivierung zweier Atomkraftwerke. Der Wegfall von 50 Prozent der deutschen Energieversorgung durch das Ende der Gaslieferung aus Russland. Die Probleme mit den französischen Kernkraftwerken, die ebenfalls nur noch die Hälfte ihrer eigentlichen Strom-Kapazität produzieren würden.

Einen dieser beiden Ausfälle allein, sagt Habeck, hätte man noch kompensieren können. „Beides zusammen ist allerdings wirklich tatsächlich eine extreme Herausforderung.“

Also müssten Isar 2 und Neckarwestheim vorerst am Netz bleiben. „Wenn man sagt, das steht aber nicht in meinem Koalitionsvertrag und dafür bin ich eigentlich gar nicht Minister geworden, dann kann man nicht Minister sein. Man muss natürlich mit der Not des Tages umgehen.“ Das dritte noch laufende Atomkraftwerk im niedersächsischen Lingen erwähnt Habeck bei seinem Auftritt nicht. Es soll wie geplant im Dezember abgeschaltet werden.

Vielleicht auch deshalb: Es gibt, drinnen wie draußen, zumindest vorsichtigen Beifall für die Erklärungen des Wirtschaftsministers bei den traditionell besonders atomkritischen Niedersachsen-Grünen. Habeck wäre allerdings nicht Habeck, wenn er es beim atompolitischen Kleinklein bewenden ließe. Für ihn persönlich, auch das bekennt er in Hannover, ist die Verlängerung der AKW-Laufzeiten um drei Monate ohnehin das kleinste der aktuellen Probleme.

Robert Habeck umgeben von Trikots von Hannover 96

Robert Habeck umgeben von Trikots von Hannover 96

Quelle: dpa/Moritz Frankenberg

Er hat es natürlich auch noch eine Nummer größer. Habeck zieht, umgeben von den unter der Decke der „Nordkurve“ aufgehängten Trikots von Hannover 96, seinen politischen Bogen. Von den Waffenlieferungen an die Ukraine über Versäumnisse der Merkel-Regierung und den europäischen Zusammenhalt wieder zurück nach Niedersachsen. Dessen Häfen, dessen Landwirtschaft, dessen erneuerbare Energien seien „ein Schlüsselstück“ für das Gelingen der Transformation zu einer klimaneutralen Gesellschaft.

Großer Beifall für den Bundeswirtschaftsminister, in der Kneipe wie im Biergarten. Nur draußen, hinter der Polizeiabsperrung, außerhalb der grünen Wahlkampfblase, wird weiter gepfiffen. Am kommenden Sonntag wird in Niedersachsen gewählt. Die Grünen stehen derzeit bei 17 Prozent, Tendenz sinkend.