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Ein Rechtsruck droht: Italien wählt, Europa zittert

Bis 23 Uhr am heutigen Sonntag sind die Italiener aufgerufen, ein neues Parlament zu wählen. Das Ergebnis könnte dem Land einen dramatischen Richtungswechsel bringen - ein Abdriften in Richtung eines rechten Populismus und Nationalismus. Ein Überblick.

Warum treten die Parteien in Bündnissen an?

Das italienische Wahlrecht, seit 2017 eine Mischung aus Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht, begünstigt Parteien, die vor der Wahl Bündnisse eingehen. Das Mitte-Rechts-Lager besteht aus der Partei Forza Italia von Silvio Berlusconi, der nationalpopulistischen Lega des früheren Innenministers Matteo Salvini und den "postfaschistischen" Fratelli d'Italia von Giorgia Meloni. Die Größenverhältnisse in diesem Lager haben sich in den vergangenen Jahren immer stärker nach rechts verschoben: Einst war Forza Italia die stärkste Kraft, jetzt ist es Melonis Partei.

Warum ist die Wahl auch eine Schicksalswahl für die EU?

Aus zwei Gründen, einen politischen und einen wirtschaftlichen. Italien gehört zu den Gründungsmitgliedern der Europäischen Union. Sollte das rechte Lager gewinnen, dürfte es einen stark nationalistisch geprägten Kurswechsel geben. Meloni und Salvini pflegen enge Kontakte zum ungarischen Premier Viktor Orbán und der rechtsextremen Französin Marine Le Pen. Meloni unterstützt außerdem die rechtsradikale Partei Vox in Spanien, Salvinis Lega hat 2017 ein Abkommen mit der Putin-Partei "Einiges Russland" unterschrieben. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sagte am Donnerstag im Rahmen eines Vortrags an der Princeton University in den USA: "Wir werden sehen, was die Wahlen in Italien ergeben. Sollte die Lage schwierig werden, verfügen wir über die nötigen Instrumente."

Was die Wirtschaft betrifft, liegt Italiens Staatsverschuldung bei 2,760 Billionen Euro. Das sind rund 150 Prozent des Bruttoinlandsprodukts - in der Eurozone hat nur Griechenland eine höhere Schuldenquote. Zudem ist Italien das Land, das mit knapp 200 Milliarden Euro den höchsten Betrag aus dem europäischen Wiederaufbaufonds erhält. Meloni will wegen der explodierenden Energiekosten eine Revision des Fonds, Salvini setzt auf neue Schulden. "Sollte Italien ins Schlittern kommen, hätte es große Schwierigkeiten, neue Staatsanleihen auf den Markt zu bringen", sagt der italienische Ökonom Nicola Nobile ntv.de. Eine finanzielle Schieflage Italiens, immerhin die drittgrößte Wirtschaft im Euroraum, könnte gravierende Folgen für die gesamte Währungsgemeinschaft haben, "die sich ohnehin seit diesem Semester in Rezession befindet", so Nobile.

Warum bezeichnet man die Partei Fratelli d'Italia, die Brüder Italiens, als "postfaschistisch"?

Die Wurzeln dieser im Dezember 2012 gegründeten Partei reichen in die neofaschistische Partei Movimento Sociale Italiano (MSI) zurück, die 1946 von heimgekehrten Mussolini-Anhängern gegründet worden war. Ihr Symbol war die Flamme in den Farben der italienischen Fahne. In den 1980er-Jahren versuchte der MSI, sich als national-konservativ zu profilieren, obwohl ein Teil ihrer Mitglieder weiter ein klar neofaschistisches Gedankengut pflegte. 1995 kam es zur Umbenennung in Alleanza Nazionale. Der damalige Vorsitzende Gianfranco Fini distanzierte sich vom Faschismus, den er als "das absolute Böse" bezeichnete. Die Alleanza Nazionale wiederum ging 2009 in den Fratelli d'Italia auf.

Die jetzige Parteichefin Meloni, die schon der MSI-Jugendorganisation angehört hatte, hat sich nie so deutlich vom Faschismus distanziert. Die Flamme wurde auch im Logo der neuen Partei beibehalten. Ihr Verhältnis zu den Wurzeln der Fratelli ist ein Balanceakt. So sagt der Politologe Giovanni Orsina, "dass die von der Partei neu hinzugewonnen Wähler keine Nostalgiker des Faschismus sind, sondern in Meloni nur eine toughe Politikerin sehen". Gleichzeitig kandidieren für die Partei weiterhin Militante aus dem rechtsextremen Milieu, die sehr wohl Nostalgiker des Faschismus sind und auf Kundgebungen immer wieder den "römischen Gruß" zeigen.

Warum ist das Mitte-Links-Lager so schwach?

Auch Italiens Demokratische Partei (PD) kämpft, wie viele ihrer sozialdemokratischen Schwesternparteien in Europa, mit einer gewissen Streitsüchtigkeit, wenn nicht gar mit einem Drang zur Selbstzerfleischung. Unter dem ehemaligen, selbstgefälligen Parteichef und Premier Matteo Renzi riskierte die Partei, wegen zahlreicher Austritte fast zu verbluten.

Nach Renzis eigenem Parteiaustritt 2019 kehrte Ruhe ein, doch statt die Identität der Partei zu festigen und klare programmatische Linien zu erarbeiten, steckten zuerst Nicola Zingaretti und dann der jetzige Parteivorsitzende und Spitzenkandidat Enrico Letta ihre Energie in den Aufbau eines breiten Bündnisses mit der 5-Sterne-Bewegung. Zum Bruch kam es erst, als die 5 Sterne im Juli zusammen mit Forza Italia und Lega Ministerpräsident Mario Draghi zum Rücktritt veranlassten. Gleich, wie das Wahlergebnis ausfallen wird, die Demokratische Partei muss sich wiederfinden, will sie in Zukunft nicht von den Launen und Machtstrategien anderer abhängig sein.

Was sagen die Umfragen?

Aktuelle Daten sind nicht verfügbar, weil die Veröffentlichung von Umfragen in den zwei Wochen vor dem Wahltag in Italien verboten ist. Zuletzt lag das Rechtsbündnis klar vor, Melonis Fratelli können darauf hoffen, stärkste Kraft zu werden. Bei den Wahlen 2018 hatten die Postfaschisten nur gut vier Prozent erhalten.

Wann können die Italiener mit einer neuen Regierung rechnen?

"Das hängt davon ab, ob das Wahlergebnis eindeutig ist oder sich eine Pattsituation zwischen den Bündnissen ergibt", sagt Marzio Breda, Journalist bei der Tageszeitung "Corriere della Sera". Sollte es zu einem Unentschieden kommen, könnte sich eine Regierungsbildung in die Länge ziehen. 2018 dauerte es fast drei Monate, bis die 5 Sterne und Salvinis Lega eine Regierungskoalition bildeten. Solange die neue Regierung nicht vereidigt ist, bleiben Draghi und die Minister seiner breiten Koalition für die laufenden Geschäfte im Amt.

Sicher ist im Moment nur, dass am 13. Oktober die erste Sitzung des neuen Parlaments stattfindet. Danach werden die Präsidenten des Senats und des Abgeordnetenhauses sowie die Fraktions- und Ausschussvorsitzenden gewählt. "Alles in allem", sagt Breda, "wird Präsident Sergio Mattarella erst um den 18. Oktober herum die Beratungsgespräche mit den Parteien aufnehmen."

Was sind die dringendsten Aufgaben der neuen Regierung?

"Gleich wer die nächste Regierung führen wird, zu beneiden ist er nicht", sagt Wirtschaftsexperte Nicola Nobile. Bis Jahresende muss das Haushaltsgesetz unter Fach und Dach sein. Außerdem steht noch die Verabschiedung wichtiger Reformen und Gesetze aus, um Anfang 2023 die fällige Tranche von 22 Milliarden Euro aus dem EU-Wiederaufbaufonds zu bekommen.

"Absolute Priorität müsste aber ein neues Hilfspaket haben, um Unternehmen und Familien, die unter den Energiepreisen und der Inflation leiden, zu helfen. Und das setzt eine Neuverschuldung voraus", so Nobile. Zwar habe sich Draghi bis jetzt dagegen gesträubt. Nobile sieht aber keine Alternative. "Immerhin haben sich mittlerweile auch Deutschland und Frankreich dazu entschlossen und konsistente Hilfspakete verabschiedet."