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Fachkräftemangel: Diese Krise trifft uns härter als Corona und der Krieg

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

haben Sie in diesem Jahr schon mal versucht, einen Handwerker zu bekommen? Falls ja: Sie tun mir leid! Elf Wochen wartet man in Deutschland derzeit im Schnitt auf einen Handwerker. Wenn es ums Bauen geht, sogar 16. Ein Vierteljahr für einen tropfenden Wasserhahn, ein neues Fenster, neue Fliesen. Ein Irrsinn.

Der Hauptgrund dafür ist, dass es an Fach- und insgesamt an Arbeitskräften in Deutschland mangelt. Und zwar nicht irgendwie so ein bisschen. Sondern massiv, über sehr viele Branchen hinweg – das Handwerk, die Pflege, IT, Erziehung und Sozialarbeit sind mit am stärksten betroffen. Weil die Generation der Babyboomer nun in Rente geht, wird sich das Problem noch verschärfen. Von Millionen zusätzlich nötigen Arbeitskräften bis 2035 spricht Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD). Eine Krise kündigt sich an, die das Zeug hat, Corona-Pandemie und Energie-Engpässe in den Schatten zu stellen.

Experten sind sich seit Jahren einig: Die Lücken kann Deutschland aus eigener Kraft nicht füllen, es braucht Hilfe aus dem Ausland (mehr dazu erfahren Sie in diesem Interview von meiner Kollegin Camilla Kohrs). Die Ampelregierung will das mit einem neuen Fachkräfteeinwanderungsgesetz schaffen und hat dafür am Mittwoch Eckpunkte beschlossen. "Wir schaffen das modernste Einwanderungsrecht, das Deutschland je hatte!", verkündete Innenministerin Nancy Faeser (SPD) danach stolz.

Was Faeser nicht sagte: Das ist bereits das fünfte "modernste Einwanderungsgesetz" der Bundesregierung in 17 Jahren. Und so nett die Eckpunkte der Bundesregierung – neues Punktesystem, weniger Hürden, weniger Bürokratie – bisher klingen: Ob nun diese Reform plötzlich die nötige Wirkung bringt, ist zu bezweifeln.

Warum, mag mancher fragen? Schließlich wollen doch alle nach Deutschland, hört man ja allenthalben. Tolles Land, vergleichsweise stabile Bezahlung, Oktoberfest! Sollen sie dankbar sein, wenn sie kommen dürfen.

Genau diese Haltung ist ein Problem. Denn Fremd- und Selbstwahrnehmung klaffen da ziemlich weit auseinander. Deutschland hat nämlich nicht nur Schwierigkeiten, Fachkräfte zu gewinnen – es hat auch Probleme, jene zu halten, die schon hier sind.

Im Schnitt verlassen laut Arbeitsagentur pro Jahr 8,4 Prozent der Menschen mit anderer Staatsangehörigkeit das Land wieder. Und einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft aus dem Jahr 2018 zufolge tun sie das sehr rasch: Vor allem die Zahl derer, die innerhalb ihrer ersten drei Jahre gehen, ist gewachsen.

Einer der zentralen Gründe, warum man sich so rasch wieder verabschiedet: mangelndes Zugehörigkeitsgefühl. Studien belegen immer wieder, dass es für Neuankömmlinge schwer ist, schwieriger als anderswo, hier anzukommen. Es gilt für sie dabei, nicht nur Hürden in Amtsstuben und auf dem Arbeitsmarkt zu überwinden, sondern auch Hürden in Hirnen und Herzen.

Ein paar Beispiele gefällig?

Ganz alltäglich und persönlich: Mein Mitbewohner hat einen ausländischen Nachnamen – also musste ich die Wohnungssuche für uns übernehmen. Auf die Dutzenden E-Mails, die er verschickte, kamen nämlich null Antworten. Ja, auch in Berlin, der angeblichen Multikulti-Hauptstadt, bleibt man mit nicht-deutschem Namen oft chancen- und heimatlos.

Oder gewohnt bürokratisch: Wer aus dem Ausland kommt, verzweifelt regelmäßig wegen der deutschen Ämter. Sind die Anträge schon auf Deutsch kaum zu verstehen, liegen sie auf Englisch oder anderen Sprachen erst gar nicht vor. Wer im Gespräch auf Hilfe hofft, ist oftmals verloren.

Oder brutaler und ganz aktuell: Während Faeser und Co. am Mittwoch ihr neues Fachkräfteeinwanderungsgesetz vorstellten, startete in Thüringen ein Prozess gegen neun Männer und eine Frau, die vor einem Neonazi-Treff drei Männer aus Guinea rassistisch beleidigt und zusammengeschlagen haben sollen. So lange, bis einer von ihnen in Lebensgefahr schwebte. Die Tat in Erfurt sorgte 2020 für Schlagzeilen und Empörung, Minister fuhren hin und bekundeten Solidarität. Geändert hat sich in Erfurt seither wenig.

Ach, doch: Mindestens einer der Betroffenen hat Thüringen inzwischen verlassen. Wie viele gar nicht erst kamen, weil solche Schlagzeilen sie abschreckten, bleibt ungemessen.

Seit Jahren predigen Arbeitsmarktexperten wie Politiker: Es brauche nicht nur wie bisher eine "Akzeptanz-", sondern eine "wirkliche Willkommenskultur", um Deutschland zu einem attraktiven Standort für Arbeitskräfte aus dem Ausland zu machen. Diese "Willkommenskultur" beschwor am Mittwoch auch Arbeitsminister Heil. Aber die Stanze ist abgenutzt und verhallt wirkungslos. Was soll das auch schon bedeuten?

Ich würde mir von Heil klare Worte wünschen. Zum Beispiel: Deutschland, du bist oft zu stolz, zu kalt, zu rassistisch. Das ist brandgefährlich und muss sich dringend ändern. Wir müssen dankbar sein für jeden, der hier arbeiten will. Wenn schon nicht aus Menschlichkeit, dann aus reinem Egoismus. Sonst geht nämlich bald gar nichts mehr.

Was steht an?

In der Hauptstadt läuft die Berliner Sicherheitskonferenz. Politiker, Experten und Vertreter der Industrie aus aller Welt treffen sich dort. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) kam am Mittwoch bereits mit dem norwegischen Ministerpräsidenten Jonas Gahr Støre zusammen, zum Abendessen stieß auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hinzu. Sie zogen Konsequenzen aus der Sprengung der beiden Nord-Stream-Pipelines in der Ostsee Ende September: Die Nato soll in Zukunft Gaspipelines und Internetleitungen auf dem Meeresboden vor Angriffen schützen. An diesem Donnerstag werden Stoltenberg, Verteidigungsministerin Lambrecht und Scholz weiter diskutieren. Auch Deutschlands missliche Lage – zurzeit fehlen der Bundeswehr zum Beispiel erhebliche Mengen an Munition – dürfte dabei Thema sein. Um 16.30 Uhr steht eine Pressekonferenz mit Stoltenberg im Kanzleramt an.

Die Weltklimakonferenz ist gerade vorbei, ab dem 7. Dezember findet der Weltnaturgipfel im kanadischen Montreal statt. Eines der Hauptziele der Konferenz ist es, mindestens 30 Prozent der weltweiten Landes- und Meeresflächen bis 2030 unter Schutz zu stellen. Bislang ist lediglich ein Bruchteil dieser Flächen geschützt. Ein UN-Report, der heute erscheint, soll unter anderem aufzeigen, wie viel Geld noch fehlt.

Lange Ceta-Debatte wird beendet: Seit 2017 schon ist das EU-Handelsabkommen mit Kanada (Ceta) unterzeichnet. Die FDP dringt seit Langem auf die Ratifizierung, die Grünen sträubten sich heftig. Kritiker fürchteten unter anderem die Etablierung einer Art Sonderjustiz für Unternehmen. Die Bundesregierung machte sich auf EU-Ebene für Nachbesserungen stark, heute soll das Abkommen durch Abstimmung im Bundestag ratifiziert werden.