Das Lollapalooza-Festival in Berlin präsentiert sich in diesem Jahr als ganz besondere musikalische Wundertüte. Und das bei Temperaturen um die 30 Grad. Beides hält die Musik-Fans aber nicht davon ab, zu David Guetta, Mumford & Sons & Co zum Olympiagelände zu strömen. Im Gegenteil.
Berlin. Die Sonne brennt. Das Haar sitzt … von wegen! Bei hochsommerlichen Temperaturen mitten im September, praller Sonne satt und im Rausch der Musik dürfte wohl auch dem eitelsten Fan beim Lollapalooza in Berlin die Frisur irgendwann schnurz gewesen sein. Und das, obwohl sich Festivals auch hierzulande immer mehr zum Freizeit-Laufsteg zu mausern scheinen. Coachella lässt grüßen - mit jeder Menge fransigen Hippie-Klamotten, Strass-geschmückten Gesichtern und Glitter auf der Haut.
Noch einmal darf in diesem Jahr unter freiem Himmel nach Herzenslust gerockt, gepoppt, gerappt und gefeiert werden. Unter Bedingungen, die angesichts des samstäglichen Hitze-Einbruchs in der Hauptstadt so wohl niemand erwartet hätte, als vor rund einem Monat beim Wacken Open Air die Welt noch im Schlamm unterzugehen drohte.
Die Lollapalooza-Veranstalter kommen ihrer Verantwortung nach, die Besucherinnen und Besucher auf den Videoleinwänden kontinuierlich darauf hinzuweisen, doch bitte genug zu trinken, um zwischen der steinernen NS-Architektur auf dem Olympiagelände nicht irgendwann zu dehydrieren. Hat man keine Lust, seinen Flüssigkeitshaushalt ausschließlich mit Berliner Leitungswasser an vereinzelten Hähnen auf dem Areal aufzufüllen, ist es gut, wenn man den Verzehr-Chip am Handgelenk mit ausreichend Guthaben aufgeladen hat. Das sollte jedoch kein Problem sein, denn unter 40 Euro "Zwangsumtausch" kommt man an den Top-Up-Stationen auf dem Gelände ohnehin nicht herum.
Das "Cashless"-Konzept des Festivals dürfte nach wie vor vielen Besucherinnen und Besuchern sauer aufstoßen - auch wenn die Macher nicht müde werden, auf die angeblichen Vorteile zu verweisen und etwa in der Lollapalooza-App erklären, wie man sich überzähliges Guthaben später kompliziert mit einer "geringen Transaktionsgebühr" online wieder zurückholen kann. Viele werden im Nachhinein jedoch lieber auf ein paar Euro fünfzig freiwillig verzichten - und dem Lollapalooza so eine zusätzliche Einnahmequelle bescheren.
Doch das ist selbstredend nur ein Randaspekt. Denn worum geht es beim Festival eigentlich in erster Linie? Um die Musik natürlich. Und da haben sich die Booker beim Lollapalooza in diesem Jahr so einiges einfallen lassen, um aus dem Einheitsbrei musikalischer Großveranstaltungen dieser Art herauszustechen. Die Spannbreite reicht von Indie-Rockern wie den Imagine Dragons über einen Rap-Superstar wie Macklemore bis hin zum Experimental-Electro des französischen Duos The Blaze. Dazu gesellen sich jede Menge Newcomerinnen und Newcomer, Senkrechtstarterinnen und Senkrechtstarter, von denen einige noch nicht allzu viel Festival-Luft geschnuppert haben dürften.


Ava Max hatte zwar viele Hits im Gepäck, aber das meiste kam vom Band.
(Foto: picture alliance/dpa)
Man kann Einheitsbrei aber auch mit Einheitsbrei begegnen. So waren etwa Format-Radio-Popstars wie Zara Larsson, Ava Max oder der stets sich selbst besingende Jason Derulo in diesem Jahr noch seltene Festival-Gäste - das "Superbloom" in München einmal ausgenommen. Apropos Zara Larsson und Ava Max: Die beiden lieferten sich am Lollapalooza-Samstag gleich mal ein indirektes Fernduell - mit der Schwedin auf der südlichen Hauptbühne, unmittelbar gefolgt vom Auftritt ihrer US-Kollegin auf der "Main Stage North".
Das ist 1:0 für Schweden ausgegangen. Das aber nicht unbedingt wegen Larssons kantenloser Musik, sondern weil sie den Massen mit kompletter Band, perfektem Sound und satten Bühnenfarben so einheizt, dass sie unter dem Berliner Nachthimmel zweifelsohne besser aufgehoben gewesen wäre als im gleißenden Sonnenlicht. Mit dem Abba-Cover "Lay All Your Love On Me" präsentiert die Blondine dann auch noch ihre Bewerbung als Agnetha 2.0. Aber Obacht! Das Original ist noch nicht abgeschrieben und hat gerade erst die Veröffentlichung eines neuen Albums angekündigt.
Und Ava Max? Keine Frage: Kaum eine Künstlerin scheint aktuell mit mehr Pop-Genen ausgestattet zu sein als sie. Und so feuert sie einen ihrer Radio-Dauerschleifen-Hits nach dem anderen ab: von "Kings & Queens" über "Who's Laughing Now" bis "Sweet but Psycho". Auch ihre Neuinterpretation des ATC-Kirmes-Klassikers "Around the World", die bei ihr auf den Namen "My Head & My Heart" hört, oder aber ihr Aqua-Konter "Not Your Barbie Girl" dürfen natürlich nicht fehlen.
Da bekommen nicht nur die kindlichen Zahnspangenträgerinnen und -träger, die auf dem Lollapalooza reichlich vertreten sind, große Augen. Auch die Eltern, bei denen im Büro täglich Radio NRJ läuft, geraten in Mitsinglaune. Blöd nur, dass wirklich nahezu alles, was Ava Max auf die Bühne bringt, komplett aus der Konserve stammt - von ihren Tänzerinnen und sich selbst mal abgesehen. Doch sogar ihr Gesang kommt weitgehend vom Band. Wie sollte es auch anders gehen, nachdem nicht einmal Background-Sängerinnen im Einsatz sind, um sie bei den mitunter parallellaufenden Gesangsparts zu unterstützen?
Und jetzt alle: "Pitschi Pitschi Popo"
Nach dieser Demonstration, dass musikalische Handarbeit vielleicht auch einfach überschätzt ist, lädt die "Perry's Stage" zum radikalen Kontrastprogramm. Sie befindet sich in diesem Jahr im Olympiastadion, das mit seiner schwierigen Zugangslogistik als ehemalige Hauptbühne offenbar ausgedient hat. Hier tritt am Samstagabend kein Geringerer als der selbsternannte "King of Electrolore", Andreas Marcus, auf. Davon, einmal in einem Stadion zu singen, hat der zwischen Schlager, Elektropop und absurder Comedy changierende Berliner bisher wohl noch nicht zu träumen gewagt. Und man kann sich nicht sicher sein, ob wirklich alle, die zu seiner Show strömen, auf seine dadaistische Performance-Kunst ausreichend vorbereitet sind, um nicht vor Schreck aus den Latschen zu kippen.
Diejenigen, die johlen, in die Hände klatschen und vor Freude Pirouetten drehen, dürften es aber begriffen haben. Von "Papaya" über "Elektriker" bis hin zu "Hundi", "Disco La Cola", "Rastafari", "Pitschi Pitschi Popo" und natürlich dem "Hawaii Toast Song" hat Marcus wirklich keinen seiner "Gassenhauer" zu Hause gelassen. "Alle tanzen den Homo-Dance", schleudert er schließlich zu seinen ebenso wirren wie gekonnten Dance-Moves ins weite Lollapalooza-Rund.
Wirklich alle? Wenn man das Stadion verlässt, wo gerade auf der nördlichen Main Stage die sich weit ernster - und vielleicht hier und da auch etwas zu ernst - nehmenden Mumford & Sons klampfen, hat man da dann doch seine Zweifel. Inzwischen ist es dunkel, die Folk-Rocker wissen die Stimmung zu nutzen, um von der Bühne ein Lichtgewitter und Laserstrahlen in den Himmel zu schicken.
Die Qual der Wahl
Den Samstagabend beim Lollapalooza beschließt die Qual der Wahl. Während auf der "Perry's Stage" der "Willst du mit mir Drogen nehmen?"-Rapper Alligatoah das Zepter von Alexander Marcus übernimmt, darf die Norwegerin Aurora auf der "Alternative Stage" die Besucherinnen und Besucher noch einmal in düstere Melancholie betten, ehe es nach Hause geht. Oder doch gleich zu David Guetta, der mit seinen Kommerz-Techno-Hymnen nach 2018 nun bereits zum zweiten Mal der ultimative Headliner des Berliner Lollapalooza-Festivals ist?


Mit David Guetta ging es nach Hause.
(Foto: picture alliance/dpa)
Es endet mit einer Runde Mitleid für die Generationen Z & Co, die wohl nie erfahren werden, wie entspannt es noch war, als es auf Festivals nur eine oder vielleicht zwei Bühnen gab und man nicht ständig ereignisgetrieben von A nach B hetzen musste. Und es endet - wie sollte es anders sein - mit David Guetta. Ein Mann, ein Mischpult, viel Stroboskop, Rauch und Feuerwerk - im Grunde alles wie bei Ava Max, nur in XXL-Dimensionen.
Der französische Star-DJ sampelt sich durch so ziemlich alle Songs, mit denen er bereits die Charts aufgemischt hat. Und das sind bekanntlich viele. Wenn er dann auch noch Sprenkel von Aviciis "Wake Me Up", "Be My Lover" von La Bouche oder Galas "Freed From Desire" einfließen lässt, gelingt ihm das Kunststück, nostalgische Gefühle gleichzeitig zu zelebrieren und zu pulverisieren. "Are you feeling good? I am here to spread love and positivity!", ruft Guetta der tanzenden Meute zu, ehe seinen Job am Sonntag andere übernehmen. Dann werden neben Imagine Dragons, Macklemore und Jason Derulo auch Acts wie SDP, Chase Atlantic und Lost Frequencies das Lollapalooza mit ihrer Liebe und Positivität überziehen.