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Historiker Ther im Interview: "Es gibt einen Zusammenhang zwischen Neoliberalismus und Rechtspopulismus"

Historiker Ther im Interview "Es gibt einen Zusammenhang zwischen Neoliberalismus und Rechtspopulismus"

Der Aufstieg von Rechtspopulisten ist auch eine Folge von neoliberaler Politik, sagt der Historiker Philipp Ther. Das postkommunistische Europa sei bei dieser Entwicklung "pionierhaft" gewesen. "Wenn man sich heute eine Wahlkarte von Polen anschaut, dann sieht man, dass die rechtsnationalistische Regierungspartei PiS vor allem in Regionen erfolgreich ist, die meist als 'abgehängt' bezeichnet werden", so Ther im Interview mit ntv.de.

Das heiße nicht, dass alle Wähler von Parteien wie der PiS oder der AfD arbeitslos seien oder ein geringes Einkommen hätten. Aber viele Wähler rechtspopulistischer Parteien seien irgendwann im Laufe ihres Lebens von Arbeitslosigkeit oder sozialem Abstieg betroffen gewesen. "Sie trauen daher dem Wohlstand nicht, den sie sich erwirtschaftet haben, sie trauen dem sozialen Frieden nicht."

Philipp Ther lehrt am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien. Er ist zudem Leiter des dortigen Forschungszentrums für die Geschichte von Transformationen.
Philipp Ther lehrt am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien. Er ist zudem Leiter des dortigen Forschungszentrums für die Geschichte von Transformationen.

Philipp Ther lehrt am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien. Er ist zudem Leiter des dortigen Forschungszentrums für die Geschichte von Transformationen.

(Foto: RECET.at)

ntv.de: Als eine der Ursachen für Rechtspopulismus gilt die Angst vor Veränderungen. Sie sind als Historiker unter anderem Experte für Transformationen. Sind Transformationen in der Moderne denn immer mit Phänomen wie Massenarbeitslosigkeit verbunden?

Philipp Ther: Massenarbeitslosigkeit nicht unbedingt. Aber jeder tiefgreifende Wandel produziert Gewinner und Verlierer. Auch die Transformation in Osteuropa nach 1989 hat viele Verlierer produziert. In Ostdeutschland entstanden auch prosperierende Regionen wie die rund um Dresden, Leipzig oder Jena. Aber für viele ländliche oder kleinstädtisch geprägte Regionen bedeutete die Schließung der örtlichen Industrie eine Zäsur mit einschneidenden sozialen Begleiterscheinungen wie beispielsweise der massenhaften Abwanderung: 1,4 Millionen Ostdeutsche verließen in den ersten vier Jahren nach der Einheit ihre Heimat. Solche Transformationserfahrungen gibt es nicht nur im postkommunistischen Europa, sondern auch im südlichen Europa, im "Rust Belt" der USA oder in den Industrierevieren in Mittel- und Nordengland.

Sie beschreiben diese Transformationsprozesse als Folge einer neoliberalen Politik. "Neoliberalismus" wird häufig als Kampfbegriff benutzt.

Ich bin nicht dafür, den Neoliberalismus als Popanz aufzubauen - wenn man immer wieder auf diesen Sack einschlägt, kommen nicht unbedingt neue Erkenntnisse heraus.

Was bedeutet der Begriff?

Der Neoliberalismus als ökonomisches Denkmodell und wirtschaftspolitisches Konzept hat eine lange Geschichte. In den 1950er Jahren war das mal ein positiv besetzter Begriff, mit dem eine bestimmte ökonomische Schule ihre Lehren beschrieben hat. Ihr Ansatz war auch eine Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise nach 1929, an die sich damals noch fast alle erinnern konnten. Zu einer Radikalisierung dieses Konzepts kam es vor allem infolge der sogenannten Stagflation in den 1970er Jahren - also einer Zeit von Inflation und stagnierendem Wirtschaftswachstum. Politisch vertreten wurde der Neoliberalismus zunächst vor allem von der britischen Premierministerin Margret Thatcher und US-Präsident Ronald Reagan, inhaltlich besteht es aus einem Bündel an Grundprinzipien: Privatisierung, Liberalisierung und Deregulierung, immer kombiniert mit einer Austeritätspolitik. Deutschland hat diese Politik in den 1990er Jahren erreicht.

Allerdings nicht so radikal wie in Großbritannien und den USA.

Der Neoliberalismus unterscheidet sich von Land zu Land, zudem gibt es unterschiedliche Phasen: die besonders radikale nach der Jahrtausendwende, in der Regierungen eigentlich alles privatisieren wollten, was man privatisieren konnte, auch staatliche Kernkompetenzen. Nach der globalen Finanzkrise 2007/2008 gab es gewisse Korrekturen, aber während der Euro-Krise hat die Bundesrepublik eine neoliberale Linie verfolgt. Durch die Covid-19-Pandemie und die Folgen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine ist eine neue Zeit angebrochen, aber völlig weg ist das neoliberale Denken nicht.

Was ist daran problematisch?

Ein Beispiel: Für die "schwarze Null" der Jahre 2012 bis 2019 bezahlen wir heute mit verspäteten Zügen und einer maroden Infrastruktur. Gespart wurde ausgerechnet in einer Zeit, als man sich günstig hätte verschulden können. Insofern fällt die Austeritätspolitik den Deutschen nun selbst auf die Schuhe. Selbst in Ländern, die wirtschaftliche stark aufgeholt haben wie zum Beispiel Polen, hat die Transformation schwerwiegende soziale Probleme verursacht. Der Aufschwung, der in Polen einsetzte, war sehr ungleich verteilt. Wenn man sich heute eine Wahlkarte von Polen anschaut, dann sieht man, dass die rechtsnationalistische Regierungspartei PiS vor allem in Regionen erfolgreich ist, die meist als "abgehängt" bezeichnet werden, das sogenannte "Polska B". In den urbanen Wachstumsregionen wie Warschau, Danzig oder Posen wählen die Leute dagegen überwiegend liberal oder linksliberal. Auch Trump hat die Präsidentschaftswahlen von 2016 vor allem im Rust Belt gewonnen, in den ehemaligen Hochburgen von Kohle und Stahl, wo die alten Industrieanlagen seit den 1970er Jahren vor sich hin rosten.

Ähnlich ist es in Deutschland mit der AfD.

Das bedeutet nicht, dass alle Wähler von Trump, PiS oder AfD Transformationsverlierer sind, dass sie aktuell arbeitslos sind oder ein geringes Einkommen haben. Zu diesen Wählern gehört auch ein Teil des Mittelstands und sehr reiche Menschen. Einer der Gründe dafür ist, dass viele Wähler rechtspopulistischer Parteien, selbst wenn es ihnen heute besser geht, irgendwann im Laufe ihres Lebens von Arbeitslosigkeit oder sozialem Abstieg betroffen waren. Sie trauen daher dem Wohlstand nicht, den sie sich erwirtschaftet haben, sie trauen dem sozialen Frieden nicht. Und hier liegt der Zusammenhang zu den neoliberalen Reformkonzepten.

Inwiefern?

Nehmen wir das besonders anschauliche Beispiel der Transformation in Osteuropa. Dort sollte mit einer "Schocktherapie" aus dem vermeintlichen Homo sovieticus ein Homo oeconomicus gemacht werden - also aus Untertanen des sowjetischen Imperiums ein ökonomisch denkender Mensch. Und wie hat man das gemacht? Durch das Zurückschneiden von Sozialleistungen, für die man immer härtere Bedingungen eingeführt hat. In Deutschland haben wir das als "Hartz IV" kennengelernt. Wobei man betonen muss, dass die Ausmaße solcher Sozialreformen immer vom Wohlstandsniveau des jeweiligen Landes abhingen: In Deutschland musste wegen Hartz IV niemand hungern. In Ländern, die ärmer waren, haben diese sozialen Einschnitte nicht nur relative, sondern auch absolute Armut mit sich gebracht. Dadurch sind Ängste entstanden, von denen die Rechtspopulisten bis heute profitieren. Sie betreiben eine "Politik mit der Angst" - meine Wiener Kollegin Ruth Wodak hat darüber ein wichtiges Buch geschrieben.

Ist dieser Neoliberalismus der einzige Grund für das Erstarken von populistischen Parteien? Haben Trump, die PiS und die AfD alle die gleiche Grundursache?

Man sollte solche Entwicklungen nie allein auf sozioökonomische Ursachen reduzieren. Gerade in den USA spielt auch der dort stattfindende Kulturkampf eine wichtige Rolle. Aber die Zeit nach 1989 war schon stark von einem Denken geprägt, in dem Gewinn- und Verlustrechnungen wichtiger waren als andere Aspekte, die für den Zusammenhalt einer Gesellschaft und auch für ihren ökonomischen Fortschritt ebenfalls bedeutsam sind. Die Sozialreformen und bestimmte Folgen der Globalisierung haben einen Teil der Bevölkerung nicht nur aufgebracht, sondern verängstigt und traumatisiert. Diese Ängste sind für Populisten in Krisenzeiten abrufbar - etwa in der sogenannten Flüchtlingskrise von 2015/2016. Zum andern haben solche Reformen auch zu einer Entsolidarisierung von Gesellschaften geführt. Gerade in Gesellschaften, in denen neoliberalen Sozialreformen besonders stark gewirkt haben und in denen die soziale Ungleichheit besonders hoch ist, ist dieser neue Nationalismus stark, der sich hinter dem Label "Rechtspopulismus" verbirgt. Das ist ein alter Topos der europäischen Geschichte: Entsolidarisierte Gesellschaften sind ein Nährboden für Nationalismus und xenophobe Einstellungen.

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Kulturkämpfe gibt es auch in Deutschland.

Hier geht es häufig um Dinge, die für einen großen Teil der Gesellschaft schwer vermittelbar sind. Beispiel Gendersternchen: Ich finde, dass auf der Seite derer, die dieses Anliegen vertreten, nachgedacht werden sollte, ob ihre Strategie vielleicht kontraproduktiv ist. Es wird für Einwanderer damit noch schwerer, die deutsche Sprache zu erlernen und wie soll man das in andere Sprachen übersetzen? Man sollte vor allem etwas gegen den Gender-Pay-Gap tun, also die unterschiedliche Bezahlung von Frauen und Männern für die gleiche Arbeit.

Ist Rechtspopulismus ein globales Phänomen?

Populismus ist ein universelles Phänomen, deshalb ist es auch schwierig, ihn auf eine einzige Ursache zurückzuführen. Auf europäischer Ebene fällt allerdings auf, dass das postkommunistische Europa pionierhaft war - dort beginnt es schon zu Beginn der Nullerjahre, ursprünglich als Protest gegen die Reformpolitik und gegen wachsende soziale und vor allem regionale Ungleichheit. Dieser Protest kann in verschiedene Richtungen fließen. In Ostdeutschland profitierte davon zunächst die PDS beziehungsweise die Linkspartei. Aber offensichtlich ist diese Partei nicht mehr in der Lage, Protestwähler an sich zu binden.

Wir führen dieses Interview in der Annahme, dass der Aufstieg von Rechtspopulisten und Nationalisten für eine Demokratie nicht gut ist. Sie sind Historiker und kein Politikberater. Hätten Sie trotzdem Tipps für Politiker, was sie tun könnten, um den Aufstieg von Populisten zu stoppen? Oder ist es zu spät, weil die Gründe so lange zurückliegen?

Was man auf keinen Fall machen sollte, ist, diesen Parteien und ihrer Propaganda hinterherlaufen. Die Menschen wählen dann lieber das Original. Ein zweiter Punkt wäre, dass man darüber nachdenkt, was dazu geführt hat, dass liberale, sozialdemokratische oder auch konservative Parteien sich in einer Krise befinden. Mittlerweile weiß man, dass soziale und regionale Ungleichheit diesen Parteien Wähler zutreibt. In noch immer relativ starken Sozialstaaten wie der Bundesrepublik findet Umverteilung zwar statt. Es ist allerdings überwiegend eine Umverteilung innerhalb der Mittelklasse. Aber ich gebe zu, dass das abstrakte Schlagworte sind. Das in konkrete Politik umzusetzen, ist schwierig. Zumal wir in Zeiten leben, in denen eigentlich Einschnitte nötig wären, um den Klimawandel und das Artensterben aufzuhalten. Insofern ist die jetzige Bundesregierung nicht zu beneiden. Sie muss einerseits den Stillstand der letzten zwei Legislaturperioden ausgleichen und andererseits den Aufbruch in die grüne Transformation sozialverträglich gestalten. Leicht ist das nicht.

Mit Philipp Ther sprach Hubertus Volmer