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Hoffnungen, Ängste, Autos, Kühe: Das bringt Freihandel zwischen EU und Mercosur

Viel deutet darauf hin, als könnten mehr als 20 Jahre Verhandlungen der EU zu einem Freihandelsabkommen mit dem südamerikanischen Mercosur führen. Das birgt für beide Seiten Risiken. Aber vor allem Chancen darauf, dass sich etwas positiv verändert.

Der Wille ist groß, die politische Lage günstig. Die Verhandlungen für eine Freihandelszone zwischen der EU und dem südamerikanischen Wirtschaftsraum Mercosur sollen mit Dringlichkeit zum Abschluss gebracht werden. Das weckt viele Ängste und Hoffnungen über die Zukunft. Doch wo vorher zumeist über die Nachteile gesprochen wurde, sehen inzwischen auch Staatschefs in Südamerika eher die Chance auf eine wichtigere Rolle in der Welt. Die soll wiederum dabei helfen, ihre nationalen Probleme zu bekämpfen.

Der Mercosur eint die größte Volkswirtschaft des Kontinents, Brasilien, mit der drittgrößten, Argentinien, sowie Paraguay und Uruguay. Seit mehr als 20 Jahren schon wird das Freihandelsabkommen mit der EU verhandelt, 2019 wurde der ursprüngliche Vertragstext unterschrieben. Er soll die größte Freihandelszone der Welt schaffen, mit mehr als 500 Millionen Menschen in Europa und 270 Millionen Einwohnern in Südamerika. Die dortigen Länder exportieren derzeit vor allem Agrarprodukte in die EU, die wiederum vor allem Industriegüter in den Süden verkauft. Die EU will China zuvorkommen, mit dem Brasilien ebenfalls ein Freihandelsabkommen anstrebt.

Bundeskanzler Olaf Scholz ist nicht aus Höflichkeit auf Südamerikareise. Es geht um Wirtschaftsinteressen und Geopolitik. Die drei Länder Argentinien, Brasilien sowie Chile mit eigenem Assoziierungsabkommen stehen weit oben auf der Partnerliste Berlins. Die EU und Deutschland suchen im Globalen Süden für den Umbau auf Erneuerbare Energien nach Partnern, um den Klimawandel zu bremsen und für mehr Rohstoff- und Energiesicherheit. Scholz' Initiative soll mithilfe von Zusatzvereinbarungen das Abkommen mit dem Mercosur retten. Dabei muss er insbesondere in Argentinien die Ängste über Nachteile und Risiken für die dortige Industrie ausräumen.

Die Hoffnungen Europas

Die EU und ihre Industrie sehen in Südamerika einen riesigen Absatzmarkt, der besser genutzt werden kann. Bereits jetzt exportieren mehr als 12.000 deutsche Unternehmen in den Mercosur. Zudem soll eine potenzielle Quelle für Energie gesichert werden. Eine Freihandelszone mit schrittweisem Abbau von Zollschranken soll dies vereinfachen. Schon jetzt tätigt Europa die meisten Direktinvestitionen im Mercosur, gefolgt von China und den USA. In Argentinien lagern zudem große Lithium-Vorkommen, von denen viele noch ungenutzt sind. Der Rohstoff ist derzeit für die Produktion von Batterien unerlässlich und soll der EU helfen, seine Klimaziele zu erfüllen.

Ab 2035 werden keine Verbrennerautos in Europa mehr neu zugelassen. Deutschland will bis 2045 klimaneutral werden, die EU bis 2050. Das Prinzip "Wandel durch Handel" ist wegen des russischen Angriffskriegs zwar in Verruf geraten, soll aber in Südamerika vor allem wirtschaftlich im Hinblick aufs Klima wirken. Die EU hat bereits ein Importverbot für Waren aus entwaldeten Flächen verhängt. Zudem gilt das Lieferkettengesetz, das Hersteller unter Druck setzt, EU-Standards zu erfüllen. Der Brüssel-Effekt soll auch in Südamerika wirken, etwa beim Lithiumabbau. Berlin will für seine Autoindustrie in Argentinien und Chile Zugang zu den riesigen Lithiumreserven bekommen; des für die Elektromobilität derzeit so begehrten Rohstoffs, um weniger abhängig von China zu sein.

Die grüne Lunge des Amazonas-Regenwaldes soll nicht mehr Jahr für Jahr an allen Ecken und Enden brennen, sondern geschützt werden, darin sind sich EU und der neue brasilianische Präsident Lula da Silva einig. Günstige Voraussetzungen: Lula will das Freihandelsabkommen unbedingt und hat den Stopp der massiven Entwaldung versprochen, den die Brasilianer ohnehin mehrheitlich ablehnen. Und das, obwohl auf den gerodeten Flächen vor allem Fleischproduktion für den nationalen Markt stattfindet. Es gibt bereits hochrangigen Austausch zwischen EU, Deutschland und der brasilianischen Regierung, um sich zügig zu einigen.

Die Hoffnungen des Südens

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Lula da Silva und Argentiniens Präsident Alberto Fernández sind sich einig: Das Freihandelsabkommen mit der EU soll kommen.

(Foto: dpa)

Die südamerikanischen Länder ihrerseits wollen sich in die Wertschöpfungsketten der EU einklinken und so ihr Armutsproblem bekämpfen. Argentinien und Brasilien hoffen auf noch mehr Investitionen aus der EU, mehr Industrie und Arbeitsplätze. Beide Staatschefs, Alberto Fernández und Lula da Silva, haben einen sozialen Fokus.

Argentinien will Lithium exportieren und die Infrastruktur für den Verkauf von Gas und grünem Wasserstoff an die EU schaffen. In der "Vaca Muerta" lagern die zweitgrößten Schiefergasreserven der Welt. Für Fernández' peronistisches Bündnis könnte der Abschluss ein prägender Erfolg werden, der sie insbesondere bei jungen Argentiniern als zukunftsfähig zeigt. Im Oktober finden Wahlen statt.

Argentinien und Brasilien haben zuletzt die Aufnahme von Gesprächen zu einer gemeinsamen Handlungswährung angekündigt, ähnlich des früheren ECU in der EU, derzeit unter dem Namen "Sur", Süden. Sie soll danach auf weitere Länder der Region ausgeweitet werden. Es wäre ein enormer Schritt, der auch den Handel innerhalb des Mercosur, aber auch mit der EU vereinfachen und die Abhängigkeit vom Dollar verringern könnte. Hauptsächlich Argentinien knüpft daran die Hoffnung, damit die hohe Inflation besser in den Griff bekommen zu können. Brasilien ist der wichtigste Handelspartner, und Dollarreserven sind bei der Zentralbank knapp.

Die Ängste

Frankreich, Österreich und Irland wollten das Abkommen nach der Unterzeichnung 2019 blockieren. Sie fürchteten die neue Konkurrenz für ihre Landwirte, etwa bei der Fleischproduktion. Doch die Importquoten sollen gering bleiben, laut unabhängigen Analysen wäre der Effekt deshalb nicht groß. Paris wollte zudem nicht dafür verantwortlich sein, dass für Importe aus Südamerika dort die Umwelt leidet. Ähnliches gilt für den Rohstoffabbau. Das Lieferkettengesetz dürfte diese Ängste verringert haben.

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Lithium-Produktion in der Chiles Atacama-Wüste.

(Foto: picture alliance / dpa)

In Südamerika sieht es anders aus. Der mittlerweile abgewählte rechtsradikale brasilianische Präsident Jair Bolsonaro sah die Wünsche nach größerem Schutz als Eingriff in die Souveränität Brasiliens, sogar sein Umweltminister wollte "die Rinderherden durch den Amazonas treiben". Grund war ihre Nähe zur Agrarlobby. Mit Lula im Amt hat sich der Wind komplett gedreht, die Ängste sind verflogen. Trotzdem mahnt auch er Zusatzvereinbarungen an. Welche genau, ist nicht bekannt.

In Argentinien haben die Peronisten Angst vor negativen Auswirkungen niedrigerer Zollschranken, also neuer Importe aus Übersee, auf die fragile heimische Industrie. Der Agrarsektor des Landes ist zwar höchst profitabel, bringt aber vergleichsweise wenige Arbeitsplätze. Die Ängste, das Abkommen könnte auf "cows for cars", also Kühe gegen Autos reduziert werden, sind auch deshalb wacklig, weil in Brasilien und Argentinien europäische Autobauer schon stark vertreten sind, darunter etwa Volkswagen. Es könnte also unter anderem um zusätzliche Schutzklauseln in diesem Sektor gehen.

Was jedoch genau die Forderungen aus Buenos Aires an die EU sind, darüber hält sich die Regierung bedeckt. Fernández ließ bei Scholz' Besuch jedoch deutlich durchblicken, dass er eine schnelle Einigung für möglich hält. Argentiniens Außenminister Santiago Cafiero reist deshalb in dieser Woche für Gespräche mit EU-Außenvertreter Josep Borrell nach Brüssel.

Das breite Bild

Vor ein paar Jahren schien sich der Wind gegen mehr Freihandel auf der Welt zu drehen. Die USA unter Präsident Donald Trump stellten die Regeln der Welthandelsorganisation infrage, brachen einen Handelskrieg gegen China vom Zaun und führte Zölle gegen die EU ein. Dort waren zuvor das US-EU-Abkommen TTIP und das EU-Kanada-Pendant CETA wegen Zweifeln am Nutzen und massivem Widerstand der Zivilgesellschaft in den Schubladen verschwunden.

Dann aber verlor Trump seine Wiederwahl gegen Joe Biden. Der russische Staatschef Wladimir Putin ließ seine Panzer in die Ukraine rollen, kappte das Gas für den Westen und erschütterte damit die Welt: Krieg in Europa, drohender Energiemangel und dazu der die alles überschattende Klimakrise. Nun sollen historisch verlässliche Partnerschaften ausgebaut und abgesichert sowie neue Rohstoffquellen und Energiequellen für die Zukunft erschlossen werden. In Südamerika könnten die EU und Deutschland sie gefunden haben.