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Interview mit Rolf Nikel: "Der 'polnische Moment' könnte schnell vorbei sein"

Kaum jemand hat die deutsch-polnischen Beziehungen in den vergangenen Jahren so aus der Nähe verfolgt wie Rolf Nikel. Über sechs Jahre war er deutscher Botschafter in Polen. Nun hat er ein Buch über das Verhältnis beider Länder geschrieben, auch über die Fehler der vergangenen Jahre. Denn da ist Rolf Nikel klar: Die deutsche Russland-, Ukraine- und Energiepolitik ist gescheitert. Der Regierung in Warschau wirft er vor, diese Situation ausnutzen zu wollen, statt den "polnischen Moment" zu nutzen.

ntv.de: "Die Deutschen zögern, weichen aus und handeln auf eine Art und Weise, die schwer zu verstehen ist", hat der polnische Ministerpräsident Morawiecki gesagt, bevor bekannt wurde, dass der Bundeskanzler nun doch Leopard-Panzer an die Ukraine liefern will. Hat Morawiecki recht?

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Rolf Nikel war von 2014 bis 2020 deutscher Botschafter in Warschau. Seit 2020 ist er Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).

(Foto: DGAP)

Rolf Nikel: Zunächst muss man sagen, dass die Entscheidung, die Leoparden zu liefern, am Ende ja doch noch getroffen worden ist. Ich war der Auffassung, dass sie früher hätte fallen sollen. Aber dass eine einheitliche westliche Haltung zustande gekommen ist, ist aus meiner Sicht sehr zu begrüßen. Für die Ukraine ist die Lieferung dieser Kampfpanzer sehr wichtig, gerade im Hinblick auf die von vielen erwartete russische Frühjahrsoffensive. Dass der polnische Ministerpräsident öffentlich den deutschen Bundeskanzler unter Druck gesetzt hat, ist im Verhältnis zwischen Alliierten und Partnern eher ungewöhnlich. Aber jeder hat so seine Eigenheiten. In Polen sind in diesem Jahr Wahlen. Wir müssen uns darauf einstellen, dass Deutschland in diesem Wahlkampf eine wichtige Rolle spielen wird.

Wie wird die Entscheidung für die Panzer-Lieferungen in Polen bewertet? Versucht die Regierungspartei "Recht und Gerechtigkeit", kurz PiS, sich das als eigenen Erfolg auf die Fahnen zu schreiben?

Das versuchen PiS-Politiker in der Tat, wobei man bezweifeln kann, dass das öffentliche Drängen wirklich hilfreich war. Es war doch am Ende die amerikanische Entscheidung, ebenfalls Panzer zu liefern, die zu einer Änderung der deutschen Position geführt hat.

Sie haben es gesagt, in Polen ist Wahlkampf. Aber reicht es, Kritik aus Polen als Wahlkampfmanöver abzuqualifizieren?

Nein, das wäre falsch. Polen ist vom Krieg in der Ukraine in sehr, sehr konkreter Weise betroffen. Polen ist ein direkter Nachbar der Ukraine, viele Versorgungslinien laufen direkt über Polen. Polen hat Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine in bewundernswerter Weise aufgenommen. Alles, was in der Ukraine passiert, berührt Polen sehr viel mehr - nicht nur wegen der Geografie, auch aus historischen Gründen. Teile der westlichen Ukraine haben einmal zu Polen gehört, zum polnisch litauischen Großreich und von 1918 bis 1939. Aber neben der Geografie und der Geschichte spielt natürlich auch die Politik eine Rolle. Wir sehen hier den Versuch, durch öffentliche Kritik aus dem Scheitern der deutschen Russland-, Ukraine- und Energiepolitik politisches Kapital zu schlagen. Aber man muss betonen: Das ist nicht das primäre Motiv.

Die deutsche Russlandpolitik war über Jahre ein Dissens zwischen Deutschland und Polen. War die Kritik daran in Polen parteiübergreifend?

Ja. Verschiedene polnische Regierungen und die polnische Öffentlichkeit haben die deutsche Russlandpolitik der vergangenen Jahre heftig kritisiert. Sie haben uns immer wieder auf die energiepolitische Abhängigkeit von Russland und die aus polnischer Sicht naive Sicherheitspolitik hingewiesen. Wir wollten das nicht hören. Mit dem selbstzerstörerischen russischen Angriff auf die Ukraine ist die deutsche Politik gescheitert. Für Deutschland bedeutet das einen Vertrauensverlust und eine Schwächung der Glaubwürdigkeit in der Region, insbesondere in Polen. Mit einer klugen Politik der Stärkung der NATO-Ostflanke und der Unterstützung der Ukraine können wir das verloren gegangene Vertrauen wieder zurückgewinnen.

Sie schreiben in Ihrem Buch: "In grober Fehleinschätzung der realen Lage gipfelte das deutsche sicherheitspolitische Konzept in der falschen These, Sicherheit in Europa sei nicht gegen, sondern nur mit Moskau zu gewährleisten." Sie waren vor Ihrer Zeit als Botschafter im Kanzleramt tätig: Wie konnte es zu einer solchen Fehleinschätzung kommen?

In gewisser Weise ist mein Buch auch ein Mea culpa. Allerdings ist Geschichte nach vorne offen. Was heute in der Rückschau als Fehler erscheint, ist in der konkreten historischen Situation nicht immer als solcher erkennbar. Aber gar keine Frage: Wir haben uns in eine e energiepolitische Abhängigkeit begeben. Wir waren sicherheitspolitisch naiv und haben geglaubt, wir könnten Russland durch unsere Politik innenpolitisch demokratisieren und außenpolitisch domestizieren. Wir haben auch geglaubt, wir könnten eine zunehmend autokratische russische Innenpolitik von wirtschaftlich vorteilhafter Zusammenarbeit trennen. Zugleich haben wir in all diesen Jahren nicht genügend in die Sicherheit investiert. Der größte Fehler war vielleicht, dass wir keinen Plan B hatten. Irgendwie haben wir alle geglaubt, Plan A werde erfolgreich sein.

Warum gab es in der polnischen Politik keine solche Fehleinschätzung Russlands?

Polen war lange Jahre energiepolitisch abhängiger von Russland als Deutschland. Die Polen haben allerdings rechtzeitig umgesteuert. Am Ende würde ich sagen, dass der zentrale Grund die unterschiedlichen historischen Erfahrungen unserer Länder mit Russland war. Die Rolle Russlands bei der deutschen Einheit 1871 war eine positive, ebenso bei der Wiedervereinigung 1990. Dagegen haben die Polen durchweg negative Erfahrungen mit Russland. Wie Deutschland war Russland bei allen Teilungen Polens dabei, von 1772 bis zum Hitler-Stalin-Pakt. Während wir seit 1989/90 eine fundamentale Kehrtwendung in den Beziehungen zur Sowjetunion beziehungsweise zu Russland vollzogen haben, blieb Polen skeptisch. Auch nach 2014, nach der Annexion der Krim und dem Krieg im Donbass, gingen die Maßnahmen der NATO zur Stärkung der Ostflanke den Polen nicht weit genug. Die Minsker Verhandlungen hat Polen ebenfalls mit Skepsis begleitet. Wir dagegen sind davon ausgegangen, man könne mit einem solchen politischen Prozess die Probleme lösen.

Sie schreiben, Bundeskanzlerin Merkel sei Polen gegenüber sehr freundlich gesinnt gewesen. Aber waren ihr die Einsprüche aus Warschau gegen die deutsche Russland-Politik nicht völlig egal?

Nein, das kann man nicht sagen. Ich glaube, wir haben als Bundesrepublik Deutschland sowohl versucht, innerhalb der Europäischen Union unsere Position einzubringen, wie wir auch versucht haben, eine kooperative Politik mit Russland voranzubringen. Wirtschaftlich haben Deutschland und Europa natürlich auch von preiswerter Energie profitiert. Es geht hier auch nicht um die Politik einzelner Personen. Es war ein systemisches Scheitern, das alle Bundesregierungen seit dem Ende des Kalten Kriegs betraf, mit großer Unterstützung der Wirtschaft und großer Teile der Zivilgesellschaft.

Wie würden Sie die deutsch-polnischen Beziehungen heute beschreiben?

Da muss man differenzieren. Deutschland und Polen sind gute und schwierige Nachbarn zugleich. Wir haben auf der einen Seite eine sehr solide Basis. Die Menschen sind seit der Wende in einer Weise zusammengekommen, wie wir das damals nicht zu träumen gewagt hätten Seit 1991 haben drei Millionen junger Leute am deutsch-polnischen Jugendaustausch teilgenommen. Es gibt sehr erfolgreiche Städtepartnerschaften, Kooperationen von Universitäten, grenzüberschreitende Zusammenarbeit, Kooperation von Polizei und Zoll etc. Auch der wirtschaftliche Austausch entwickelt sich außerordentlich dynamisch. Deutschland ist seit langem der wichtigste Handelspartner für Polen, umgekehrt ist Polen der fünftgrößte Exportpartner und der viertgrößte Importpartner Deutschlands. Mit den vier Visegrád-Staaten zusammen, also Polen, Ungarn, der Tschechischen Republik und der Slowakei, haben wir ein bei weitem höheres Handelsvolumen als mit unserem größten Wirtschaftspartner, der Volksrepublik China. Das sind sehr starke Säulen, auf denen die Beziehungen ruhen.

Aber?

Wir haben eine Reihe von Problemen. Das eine sind die Folgen der deutschen Russlandpolitik. Das zweite ist die Auseinandersetzung um die Geschichte. Und das dritte ist der Konflikt um die Rechtsstaatlichkeit, der im Wesentlichen zwischen Brüssel und Warschau ausgetragen wird. In allen drei Bereichen ist es im Moment schwierig.

Wie stark hängen diese Konflikte an der aktuellen Regierungspartei, der PiS?

Polen ist in der Tat innenpolitisch stark polarisiert. Beim Thema Rechtsstaatlichkeit hat die Opposition in Polen eine ganz andere Position als die Regierung. Bei den anderen beiden Themen ist dies nicht so klar.

In Ihrem Buch heißt es, die PiS-Regierung versuche, den deutschen Einfluss in Europa durch allerlei informelle Zusammenschlüsse zu schwächen und die eigene regionale Führungsrolle zu stärken.

Das bezieht sich vor allem auf die sogenannte Dreimeeresinitiative, in der die östlichen EU-Staaten zwischen Ostsee, Adria und Schwarzem Meer zusammenarbeiten. Deutschland liegt geografisch an einem der drei Meere - an demselben wie Polen, an der Ostsee. Trotzdem hat sich die polnische Regierung bis heute nicht dazu durchringen können, uns zum Vollmitglied zu erklären. Offiziell geht es bei der Dreimeeresinitiative um eine Stärkung der Infrastruktur in der Region, und das ist auch total in Ordnung. Aber es gibt prominente Stimmen in Polen, die in diesem Konzept den Versuch sehen, die Rolle Deutschlands in dieser Region zu schwächen. Das war sehr konkret, als der amerikanische Präsident noch Donald Trump hieß.

Wie bewerten Sie die polnischen Reparationsforderungen gegen Deutschland?

Ich will nicht im Einzelnen die deutsche Rechtsposition darlegen, die ist bekannt. Was ich aber sagen möchte: Ich halte es nicht für klug, dass man derartige Forderungen gerade jetzt erhebt, wo es angesichts der russischen Aggression in der Ukraine nötig wäre, möglichst große westliche Geschlossenheit zu demonstrieren. Und: Von Deutschland gab es in der Vergangenheit immer wieder freiwillige Gesten, und weitere Gesten sind ohne Frage möglich. Unter öffentlichem Druck ist es allerdings wenig wahrscheinlich, dass das geschieht.

Generell ist es zweifelsohne richtig, dass in Deutschland nicht ausreichend präsent ist, wie sehr die polnische Bevölkerung - jüdische und nichtjüdische Polen - während des Zweiten Weltkriegs gelitten hat. Sechs Millionen polnische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger sind von Deutschen teilweise bestialisch umgebracht worden. Warschau ist im Zweiten Weltkrieg zu 95 Prozent durch deutsche Einheiten zerstört worden. Um dies stärker ins Bewusstsein zu holen, soll ja auch der "Ort des Erinnerns und der Begegnung mit Polen" geschaffen werden, den der Deutschen Bundestag im Oktober 2020 beschlossen hat.

Das Auswärtige Amt hat danach eine Expertenkommission unter Ihrer Leitung damit beauftragt, ein Konzept (pdf) für diesen Ort zu erarbeiten.

Aus unserer Sicht sollte der Ort auch ein Denkmal sein. Ganz wichtig war uns, ein Konzept zu entwerfen, das auch vielfältige Begegnungen, insbesondere für die junge Generation, umfasst. Das muss jetzt schnell vorangehen. Das erwartet die deutsche zivilgesellschaftliche Initiative, die das Projekt ursprünglich angeschoben hat. Und das erwarten auch die Polen.

Hätte der russische Überfall auf die Ukraine nicht auch ein Neustart für die deutsch-polnischen Beziehungen werden können?

Ich finde, dass sich Deutschland mit seiner Politik der Zeitenwende auf die polnische Russlandpolitik zubewegt hat wie nie zuvor. Das könnte die Initialzündung für eine von beiden Seiten getragene, neue gemeinsame Ostpolitik sein. Die polnische Regierung hat es bisher vorgezogen zu versuchen, aus der entstandenen Lage politisches Kapital zu schlagen. Die Gefahr besteht, dass dieser "polnische Moment", in dem Polen von einer neuen Haltung Deutschlands profitiert, schneller vorbeigeht als mancher sich das vorstellt.

Wie ist Ihr persönliches Verhältnis zu Polen?

Sehr gut. Meine Frau und ich haben uns in den sechs Jahren, in denen wir in Polen waren, sehr wohl gefühlt. Wir haben Polen dienstlich und privat gern und oft bereist, wir haben die Vielfalt der Landschaft kennengelernt, die große Kultur, die in Deutschland viel zu wenig bekannt ist. Wir haben viele Freunde gefunden, mit denen wir immer noch in Kontakt sind. ich habe große Sympathie für Polen und leide an der Tatsache, dass die polnisch-deutschen Beziehungen im Moment in einigen Bereichen so schwierig sind. Das ist auch einer der Gründe, warum ich das Buch "Feinde - Fremde - Freunde: Polen und die Deutschen" geschrieben habe. Aus Feinden sind Freunde geworden. Aber in vielerlei Hinsicht sind wir uns noch immer fremd.

Mit Rolf Nikel sprach Hubertus Volmer