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Kampf mit ausgefeilter Taktik: Wie die Ukrainer die Russen in Panik versetzen

Klein und wendig sind die Kampftruppen, die derzeit an der Front den Unterschied machen. Ukrainische Soldaten umfahren den Gegner und sorgen dann für eine unangenehme Überraschung.

Die ukrainischen Truppen kommen in ihrer Gegenoffensive weiter voran. Mehrere eingenommene Ortschaften im Westen der Oblast Luhansk meldet das amerikanische Institute for the Study of War (ISW), ebenso Vorstöße in der Oblast Charkiw. Schon in den vergangenen Tagen konnten die Ukrainer große Geländegewinne aus dem Süden, der Region um Cherson, verkünden.

Was von außen betrachtet wie spontane Durchbrüche wirken mag, schreibt der amerikanische Militärexperte Mick Ryan einer ausgefeilten Taktik zu, die das ukrainische Militär seit einiger Zeit im Süden und Nordosten des Landes verfolge.

Die ukrainischen Angriffe, die im Süden schon vor Monaten begonnen, waren demnach auch Teil der Aufklärung, um das Vorgehen in feindlichen Stellungen zu analysieren. Parallel dazu setzte die Ukraine alles daran, zu verhindern, dass das russische Militär Informationen über Kiews Strategien und Angriffspläne sammeln konnte - ein "fantastisches Niveau von Geheimhaltung", wie der amerikanische Militärexperte John Spencer den Ukrainern attestiert. Und es hatte Erfolg: Die Russen verstärkten auf Verdacht ihre Kräfte im Süden zu Lasten der Truppen im Nordosten und wurden dort verwundbar.

Die Strategie, solche verwundbaren Stellungen zu erkennen und dann schnell und flexibel zu reagieren, beschreibt der ukrainische Militärfachmann Oleh Schdanow als den Kern der ukrainischen Offensivtaktik. "Schwache Abschnitte in der russischen Verteidigung werden identifiziert, dann ein schneller Durchbruch herbeigeführt, kleine hochmobile Angriffsgruppen stoßen hindurch", erklärte er dem "Spiegel".

Es entsteht Panik unter den Russen

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Ein alter Moskvich wird von privaten Unterstützern der ukrainischen Truppen in ein Militärfahrzeug umgebaut.

(Foto: IMAGO/NurPhoto)

Diese durchbrechenden Verbände mischen sich laut dem Kiewer Experten jedoch nicht direkt in den Kampf ein. Stattdessen umfahren sie zunächst die russischen Positionen, um dann von den Seiten aus oder sogar von hinten zu attackieren. "So entsteht Panik unter den russischen Soldaten, weil sie nicht verstehen, von wo sie angegriffen werden, nicht wissen, ob sie bereits umzingelt sind. Deshalb ziehen sie sich zurück oder treten sogar ungeordnet die Flucht an."

Die Taktik, die russischen Positionen aus unerwarteten Richtungen anzugreifen, wird auch dadurch möglich, dass die Angriffstruppen eher kleine Militärfahrzeuge oder sogar zivile Geländewagen nutzen. "Light strike", einen "leichten Angriff" nennen das amerikanische Militärs. Die Soldaten sind so zwar durch fehlende Panzerung und Schutz gegen feindliche Angriffe einem höheren Risiko ausgesetzt. Jedoch sieht Experte Spencer diese Gefahr dadurch in einem vertretbaren Rahmen, dass die Vormärsche solcher Truppen von Aufklärungskräften unterstützt werden. Stoßen sie auf militärisch deutlich überlegene Truppen, ist es noch möglich, Verstärkung von "schwereren" Kräften anzufordern.

Das Zusammenspiel dieser Taktiken, das auf Tempo, Wendigkeit und schnelle Entscheidungen setzt, vergleicht Schdanow mit den Angriffen, die der ukrainische Anarchist Nestor Machno Anfang des 20. Jahrhunderts erfolgreich im russischen Bürgerkrieg genutzt habe. Die Ukrainer wenden sie an, seitdem viele ihrer Soldaten aus NATO-Ausbildungsstätten zurückgekehrt sind, die unter anderem in Großbritannien, aber auch in anderen Partnerländern die ukrainischen Streitkräfte in Kriegstaktik schulen.

Hinter den ukrainischen Erfolgen der letzten Wochen sieht Mick Ryan eine operative Taktik samt Logistik, die den Süden und Nordosten des Landes bereits deutlich vor den tatsächlichen Vorstößen im Visier hatte. Denn die Attacken wären seiner Ansicht nach nicht möglich gewesen ohne Reserveeinheiten, die Kiew bereithielt für geplante Offensiven, aber auch für Attacken, die kurzfristig möglich werden, wenn Einheiten andernorts sichtbar ausgedünnt und leicht zu überrumpeln sind.

Hier kämpft "Qualität gegen Quantität"

Dabei steht die ukrainische Taktik im deutlichen Gegensatz zum militärischen Vorgehen der russischen Armee. Strenge Befehlsstrukturen verhindern dort, dass kurzfristige Entscheidungen, die der aktuellen Gefechtslage entsprechen, schnell umgesetzt werden. Befehle werden von ganz oben erteilt. Das geht auf Kosten von Tempo und der Fähigkeit, zu reagieren und sich auf dem Schlachtfeld anzupassen.

An der ukrainischen Front sieht Spencer inzwischen eine Schlacht von "Qualität gegen Quantität". Die Qualität der ukrainischen Truppen sei weit jenseits der des nun stark geschädigten russischen Militärs. Und weiterhin zeugen militärische Aktionen und Angriffe vom Fehlen eines übergeordneten Planes.

So hat der vom ISW gemeldete gestrige Drohnenangriff der russischen Seite auf die Region Kiew keinen Einfluss auf das Gefechtsgeschehen an der Front. Videoaufnahmen nach dem Angriff zeigen Schäden in Wohngebieten. Russische Militärblogger lobten die Zerstörungskraft der eingesetzten Drohne Shahed-136, fragten jedoch, warum die Truppen solch hoch entwickelte Technologie in vom Kriegsgeschehen weit entfernten Gebieten nutzen, anstatt sie auf dem Gefechtsfeld entlang der Frontlinie einzusetzen.