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Kiew stehen schwere Monate bevor: Kann die Ukraine den Krieg überhaupt noch gewinnen?

Auf die Ukraine kommen schwere Monate zu: Fehlende Waffen und eine drohende Frühjahrsoffensive durch Russland lassen einen Sieg immer unwahrscheinlicher erscheinen. Doch solch eine falsche Annahme gab es schon einmal.

Seit fast einem Jahr tobt in der Ukraine ein bestialischer Krieg. Drei Wochen vor dem Jahrestag des Einmarsches am 24. Februar stimmte Präsident Wolodymyr Selenskyj die Ukrainer erneut auf schwere Zeiten ein. "Die Situation wird immer härter", sagte er und warnte vor einer kurz bevorstehenden Frühjahrsoffensive Russlands.

Tatsächlich sieht es für die Ukraine nicht gut aus: Russland meldet die Einnahme von Städten um Bachmut, die russischen Truppen dringen immer weiter vor. Auf ukrainischer Seite hingegen gab es schon seit Längerem keine Geländegewinne mehr. Experten zweifeln gar, ob es dazu überhaupt noch kommen wird: "Ich befürchte, dass die Ukraine in diesem Krieg vielleicht nicht ihr gesamtes Territorium zurückgewinnen kann", sagt der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, dem "Stern".

Damit ist er nicht allein. Medienberichte, in denen von fehlender Munition und Soldaten auf Seiten der Ukraine die Rede ist, häufen sich. Hinzu kommt die drohende Frühjahrsoffensive, die Russland derzeit vorbereiten soll. Putin wolle zum Jahrestag der russischen Invasion am 24. Februar Erfolge vorweisen, sagte Selenskyj. Die versprochenen Panzer aus dem Westen dürften erst im Herbst über ukrainisches Territorium rollen und sind deshalb noch keine Hilfe. Schnell drängt sich der Eindruck auf, für die Ukraine sei der Kampf aussichtslos.

"Könnte wieder Überraschungs-Offensive geben"

Dabei ist es noch gar nicht allzu lange her, da gab es den umgekehrten Fall: Am Anfang des Winters sah es für die Russen schlecht aus. "Die Mobilisierung verlief schlecht, täglich gab es Meldungen über demotivierte Soldaten und veraltete Waffen und Fahrzeuge", erinnert Militärexperte Gustav Gressel von der Berliner Denkfabrik European Council on Foreign Relations. Auch damals entstand der falsche Eindruck, der Krieg sei fast vorbei. "Der ukrainische Sieg schien schon vor der Türschwelle", sagt Gressel ntv.de. "Jetzt sieht man, dass das doch nicht so leicht ist und die Stimmung kippt wider ins Gegenteil: Russland gewinnt, es ist alles hoffnungslos." Doch so einfach sei es eben nicht.

Kriege verlaufen dynamisch, sagt auch der ukrainische Journalist Denis Trubetskoy ntv.de. Als ukrainische Soldaten in einer Gegenoffensive im September vergangenen Jahres die Region Charkiw zurückeroberten, waren alle überrascht. Innerhalb weniger Tage hatte die ukrainische Armee mehr als 6000 Quadratkilometer und 300 Ortschaften mit einer Gesamtbevölkerung von rund 150.000 Menschen im Gebiet Charkiw befreit. Eine solche Überraschungs-Offensive könnte es wieder geben, so Trubetskoy, der für mehrere deutsche Medien schreibt, darunter ntv.de. "Man weiß es eben nicht, weil Kiew das geheim halten will."

Doch viele der Schlagzeilen über angebliche Schwächen der Ukraine seien auch faktisch falsch, sagt Trubetskoy. Berichte, nach denen beispielsweise Männer über 60 Jahren an die Front geschickt werden, seien nicht wahr. Die Ukraine könnte im Höchstfall maximal sieben Millionen Menschen mobilisieren, bisher wurden etwas weniger als eine Million eingezogen. Russland könne zwar insgesamt dreimal mehr Menschen mobilisieren, theoretisch bis zu 25 Millionen, doch das sei praktisch kaum zu machen, so der Journalist.

"Russland ist kein Wunderland"

Die vergangenen Mobilisierungswellen Russlands verliefen nicht ohne Probleme, sodass Offiziere zuletzt sogar Fehler eingeräumt hatten, nachdem Männer in den Krieg geschickt wurden, die eigentlich nie hätten eingezogen werden dürfen. Darunter etwa Verletzte und ältere Männer. Trubetskoy schätzt, dass Russland alle zwei bis drei Monate etwa 200.000 -300.000 Männer mobilisieren könnte. Im Vorteil sei Russland, wenn sich der Krieg sehr lange zieht - denn dann habe das Land mehr Ressourcen, aus denen sie weiter schöpfen könnten.

Schätzungen zufolge soll Russland zudem 4000 Panzer zur Verfügung haben. Die der Ukraine versprochenen 140 Leopard-Panzer sehen dagegen alt aus. Doch Trubetskoy hat große Zweifel, dass am Ende wirklich so viele russische Panzer einsatzfähig wären. "Russland ist kein Wunderland." Zwar sei das Land von der Anzahl an Waffen der Ukraine stark überlegen. Doch die Qualität der westlichen Waffen mache den Unterschied wieder wett, argumentiert er. Zumindest ein wenig - denn ein Nachteil bleibt: Die Ukraine bekommt noch immer zu wenig Waffen, um ihr Territorium effektiv verteidigen zu können.

"Wir haben sehr viel Zeit mit sinnlosen Debatten um Panzer verloren und verlieren sie noch weiter um Kampfflugzeuge und Artillerie", sagt auch Militärexperte Gressel. Versäumnisse gebe es auch in der Beschaffung und Produktion von Munition, vor allem in Deutschland. Trotzdem mache Verteidigungsminister Boris Pistorius bisher einen guten Job und setze die richtigen Prioritäten, lobt Gressel.

"Es kommen jetzt sehr bittere Monate"

Der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, kritisierte die Bundesregierung für ihre voreilige Ablehnung von Waffenforderungen der Ukraine. "Wir schließen ständig etwas aus, das wir dann am Ende doch bereit sind zu tun. Das macht uns unglaubwürdig. Dieses Vorpreschen beim Nein-Sagen sollte endlich aufhören, es ist schädlich", sagt Heusgen.

Zudem warnt er vor Putins Taktik, den Krieg so lange fortzuführen, bis in Europa und den USA die Unterstützung schwindet. "Er hofft, dass den Menschen die Ausgaben zu viel werden, die Energiepreise zu hoch werden, und sie das Geld für etwas anderes ausgeben wollen", sagt Heusgen im RTL Nachtjournal. Doch Putin unterschätzt seiner Meinung nach sowohl die Ukraine, als auch Europa in ihrer Widerstandskraft. Die Deutschen würden sehen, wie sehr die Ukrainer leiden. "Ich glaube, auch die Politik unterschätzt die Widerstandskraft der deutschen Bürger."

Heusgen plädiert für eine Lieferung von Kampfjets in die Ukraine, die Bundeskanzler Olaf Scholz vehement abgelehnt hat. "Wenn wir der Ukraine Waffen geben, ob es Helme, Panzer oder Flugzeuge sind, unterstützen wir gemäß dem Völkerrecht. Das Völkerrecht besagt ganz klar, ein angegriffenes Land darf sich wehren und dieses Land darf unterstützt werden", sagte er RTL. Daran ändere auch nicht die Qualität oder Quantität der gelieferten Waffen nichts.

"Aus ukrainischer Sicht kommen jetzt sehr bittere, extrem schwierige Monate zu, weil Panzer aus dem Westen erst im Sommer verfügbar sind, jetzt aber bereits die Angriffskraft der Russen anwächst", warnt Militärexperte Gressel. Die derzeitige Situation der Ukraine sei zwar nicht aussichtslos, aber der Westen müsse viel schneller, viel mehr Waffen liefern. "All diese Versäumnisse kosten sehr viele Menschenleben." Ob es sich schnell genug bessere, bleibe abzuwarten.