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Krieg in der Ukraine: "Überraschungen vor Jahresende schließe ich nicht aus"

Ukrainische Militärexperten sehen die Armee des Landes gegen die russischen Besatzer im Vorteil: Russland erleide seit dem Herbst nur noch Niederlagen - und könnte bald weitere einstecken müssen. Während derzeit vor allem im Osten heftig gekämpft wird, werde die militärische Entscheidung wohl Süden der Ukraine fallen.

Seit mehr als neun Monaten verteidigt sich die Ukraine größtenteils erfolgreich gegen die russische Aggression. Nachdem die Russen Ende März aus den nördlichen Bezirken Kiew, Sumy und Tschernihiw abgezogen sind, haben die Ukrainer im September eine überraschend erfolgreiche Gegenoffensive im Bezirk Charkiw durchgeführt und auch kleinere Geländegewinne in Regionen Donezk und Luhansk erzielt. Im November mussten die Russen Cherson aufgeben, die einzige seit dem 24. Februar besetzte Regionalhauptstadt.

"Im Prinzip bestand der Herbst aus ukrainischen Siegen und russischen Niederlagen", fasst Oleksandr Mussijenko die Militärkampagne von 2022 zusammen. "Russland hat Cherson, den Bezirk Charkiw sowie einige Orte im Donbass verloren", sagt der Direktor des ukrainischen Zentrums für militärrechtliche Studien zu ntv.de. "Gleichzeitig erreichen die Russen in der Gegend um die Stadt Bachmut, wo sie noch angreifen, nicht viel. Ansonsten wechselten sie überall in die Verteidigung." Die Initiative bleibe in ukrainischer Hand.

"Das war ein erfolgreiches Jahr für die ukrainische Armee", meint auch Oleksij Melnyk, Oberstleutnant a.D. und Co-Direktor der Programme der internationalen Sicherheit der Kiewer Denkfabrik Zentr Rasumkowa. Melnyk betont, dass der Widerstandswille der Ukrainer, die Erfahrung aus dem Donbass-Krieg und die westliche Unterstützung dafür allesamt wichtige Faktoren waren.

"Die Russen wollten sicher einen Blitzkrieg, doch danach haben sie sich für einen Abnutzungskrieg entschieden", so der Experte. "Ganz dumm war ihre Rechnung nicht, denn im Mai hätte die überwiegend sowjetische Munition der Ukrainer zu Ende gehen können. Doch die Ukraine wurde von rund 50 Ländern militärisch unterstützt. Und nun ist es unklar, wem dieser Abnutzungskrieg am Ende mehr Vorteile bringt."

Offensivaktionen dürfte es auch im Winter geben

In den letzten Wochen haben sich die Kampfhandlungen an der Front aufgrund des Tauwetters verlangsamt. Während die Russen seit Monaten ohne besondere Erfolge Richtung Bachmut angreifen, versuchen die Ukrainer, nahe der logistisch wichtigen Straße zwischen den Orten Swatowe und Kreminna im Bezirk Luhansk voranzurücken. Abgesehen davon hätte man meinen können, dass das Militärjahr 2022 strategisch beendet ist und dass größere Kampfhandlungen an anderen Frontabschnitten erst dann wieder aufflammen, wenn der Boden einfriert.

Ukrainische Militärexperten sehen dies jedoch etwas anders, zumal die Temperaturen an der Frontlinie in der zweiten Dezember-Hälfte zum Teil deutlich unter Null liegen könnten. "Überraschungen vor Jahresende schließe ich nicht aus", betont Oleksij Melnyk. "Vielleicht nicht so große wie im September im Bezirk Charkiw. Das Wetter dürfte jedoch Ende des Jahres okay sein. Und es ist für die Ukraine jetzt enorm wichtig, die Initiative nicht zu verlieren und nicht an zu vielen Abschnitten in einen Stellungskrieg überzugehen." Die Offensivaktionen könnten laut Melnyk überall an der Front stattfinden: Die ukrainische Militärführung setze stark auf Überraschungseffekte, was sie bei der Charkiwer Offensive bereits bewiesen hatte. Jedenfalls solle der Druck nicht nachlassen, während Russland den Rest seiner mobilgemachten Soldaten ausbildet.

In Bachmut wiederholt sich der Kampf um Sewerodonezk und Lyssytschansk

Bei Bachmut geht es den Ukrainern vorerst um Verteidigung. Bei Swatowe und Kreminna, wo Russland zum Teil die mobilgemachten Soldaten einsetzte, haben die Ukrainer ebenfalls wie die Russen bei Bachmut ihre Schwierigkeiten. Generell sieht Oleksandr Mussijenko aber recht gute Chancen, dieses Gebiet zu befreien, von dem aus die Ukrainer in Richtung der im Sommer besetzten Städte Lyssytschansk und Sewerodonezk vorrücken könnten. Diese sind für die Versorgung der russischen Truppen nahe Bachmut wichtig. "Durch erfolgreiche Aktionen hier können die Ukrainer den Druck auf die eigene Gruppierung um Bachmut deutlich verkleinern", meint Oleksandr Mussijenko.

Die russischen Aktivitäten bei Bachmut vergleichen Melnyk und Mussijenko mit den langen Kämpfen um Sewerodonezk und Lyssytschansk. "Militärstrategisch sehe ich wenig Sinn bei dem, was die Russen dort machen", sagt Melnyk. "In Lyssytschansk haben die Russen die Erde buchstäblich ausgebrannt. Die Stadt wurde zwar besetzt, doch es gab Riesenverluste und sie konnten dann aus dieser Richtung nicht mehr angreifen", erklärt Mussijenko. "Bachmut ist logistisch nicht ganz unwichtig, doch die Russen opfern für diese Stadt wohl wirklich so viel, weil es der einzige Ort an der Front ist, wo sie noch in der Offensive sind. Sonst wären sie an der gesamten Frontlinie in der Defensive." Das wäre für den Kreml symbolisch und politisch ein Problem.

Das strategische Ziel Nummer eins für die Ukrainer im nächsten Jahr ist aber nicht der Osten, sondern der Süden auf dem ukrainischen Festland, also das östliche Dnipro-Ufer im Bezirk Cherson und besetzte Teile des Bezirks Saporischschja. "Die Störung der sogenannten Landbrücke zur Krim wäre der absolute Wendepunkt des Krieges", meint Oleksij Melnyk. "Die Gegenoffensive im Bezirk Charkiw und die Befreiung von Cherson haben den Kriegsverlauf stark verändert. Wir reden hier aber über etwas Kriegsentscheidendes, sollte die russische Logistik dadurch kollabieren."

"Kämpfe auf der Krim würden sehr blutig"

Eine leichte Aufgabe wird das nicht sein, doch beide, Melnyk und Mussijenko, sehen hier realistische Erfolgsperspektiven. Sie schließen es daher auch - ohne konkrete Prognosen abzugeben - nicht aus, dass es Mitte 2023 zu einem Ende der aktiven Kampfhandlungen kommen könnte.

Bei der Frage der seit 2014 besetzten Krim-Halbinsel sind beide Experten aber sehr vorsichtig. "Wenn die Russen dort in eine derart katastrophale logistische Lage wie einst in Charkiw gelangen, würde eine militärische Operation Sinn machen, doch selbst dann ist mit Widerstand zu rechnen. Jedenfalls wären die Kämpfe sehr blutig", betont Melnyk. "Die Priorität ist vorerst der festländische Süden. Über die Krim könnte man dann je nach Situation auch politische und diplomatische Diskussionen führen", sagt Mussijenko vom Zentrum für militärrechtliche Studien.

"Psychologisch ist das für die Russen eine Katastrophe"

Die jüngsten, mutmaßlich ukrainischen Angriffe auf Militärflugplätze wie Engels tief im russischen Hinterland vergleicht Oleksij Melnyk in ihrer Bedeutung mit der Senkung des Kreuzers "Moskwa" und der Sprengung der Kertsch-Brücke. "Das ist der Flugplatz, wo strategische Bomber stationiert sind, die Angriffe auf ukrainische Energieinfrastruktur durchführen", sagt er. "Der Angriff mag den Kriegsverlauf nicht entscheidend verändern. Doch je weniger russische Bomber mit Marschflugkörpern auf die Ukraine schießen, desto besser. Und psychologisch ist das für die Russen eine Katastrophe, wobei Psychologie in einem Krieg oft entscheidend ist. Zudem müssen sie mehr Flugabwehr im Hinterland konzentrieren."

Oleksandr Mussijenko hat seinerseits wenig Verständnis, wenn einige westliche Kommentatoren bei solchen Angriffen von einer Eskalation durch die Ukraine sprechen: "Ich will das gar nicht erst kommentieren. Die Russen wollen mit ihren Angriffen auf kritische Infrastruktur die Ukrainer ohne Strom, ohne Heizung und ohne Wasser lassen. Die ukrainische Armee muss alles dafür tun, um solchen Beschuss für die Russen zumindest zu erschweren. Das tut sie und das ist vom Kriegsrecht so gedeckt."