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Legende Roger Milla im Interview: "Die deutsche Nationalelf hat ihre Seele verloren"

Legende Roger Milla im Interview "Die deutsche Nationalelf hat ihre Seele verloren"

Roger Milla verzückt bei der WM 1990 die Welt mit seinen Toren, später stellt er einen Fabelrekord auf. Im Interview mit ntv.de spricht er über Tricks von deutschen Fußballern, seine besondere Beziehung zu René Higuita, den Niedergang der DFB-Elf - und warum ein Wechsel zu Schalke 04 platzte.

Ntv.de: Herr Milla, herzlichen Glückwunsch nachträglich, Sie sind Ende Mai 71 geworden. Haben Sie in den vergangenen Tagen selbst Geburtstagwünsche versandt?

Roger Milla: An jemand anders?

Ihr ehemaliger Trainer, der Deutsche Peter Schnittger, der von 1970 bis 1974 die kamerunische Nationalelf coachte, hat zwei Tage nach Ihnen Geburtstag und gilt als Ihr Entdecker.

Ja, stimmt, Peter war sehr wichtig in meinem Leben. Er hat mich in meinen jungen Jahren in Kamerun spielen sehen und schon damals erkannt, dass ich sehr wichtig für die Nationalmannschaft werden würde. Deshalb hat unsere Verbindung bis heute gehalten. Als wir zum ersten Mal sprachen, hat er mir gesagt, was ich alles in meinem Spiel verbessern könne. Die Technik, die Disziplin. Er hat mir auch beigebracht, wie der Fußball in Deutschland gespielt wird. Ich habe also versucht, mir ein paar Tricks bei den Deutschen abzuschauen.

Was denken Sie heute über die deutsche Nationalmannschaft?

Ich war lange Fan von der deutschen Mannschaft, Franz Beckenbauer, Karl-Heinz Rummenigge und Uli Hoeneß war ganz große Spieler. Aber jetzt hat die Nationalelf ihre Seele verloren - und noch einiges mehr. Sie spielt ohne Herzblut und begeistert die Zuschauer nicht mehr. Daran muss man arbeiten.

1990 wurde Deutschland Weltmeister und auf der ganzen Welt erinnert man sich auch an Ihre Tore bei diesem Turnier. Können Sie als Superheld in Kamerun überhaupt noch vor die Tür gehen?

Superheld, das ist viel zu viel. Ich habe meinen Job gemacht und mit meinen Teamkollegen versucht, alles Mögliche dafür zu tun, dass die ganze Welt Kamerun kennenlernt. Ich glaube, es gibt in meinem Land niemanden, der die Geschichte nicht kennt und der sich nicht darüber freut, was wir geschafft haben.

Wir waren gut vorbereitet. Wir wussten, was Argentinien und Maradona können und haben uns genau auf sie eingestellt. Wir hatten eine Spezialtaktik auf dem Platz, um Maradona in Schach zu halten und sie hat bestens hingehauen. Argentinien, das waren aber auch Claudio Caniggia oder Jorge Burruchaga. Die hatten alle enorm was drauf. Wir haben das echt gut gegen sie gemacht.

Dann gab es da noch das legendäre Tor, als Sie René Higuita, dem stets tollkühn nach vorne dribbelnden Keeper Kolumbiens, den Ball abluchsten und in die Maschen schossen. Hat sich der exzentrische Higuita nach dem Spiel bei Ihnen beschwert?

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Kameruns 38-jähriger Torjäger Roger Milla nimmt dem leichtsinnigen kolumbianischen Torhüter René Higuita den Ball ab, gewinnt das Laufduell und netzt ein.

(Foto: picture-alliance/ dpa)

Nein, wir haben ganz normal miteinander gequatscht. Er hat mich nicht gehasst, sondern mir gratuliert. Solche Sachen passieren eben im Fußball. Wir beide stehen immer noch in Kontakt, er hat mich nach Kolumbien eingeladen. Ich habe viele tolle Tore in Afrika geschossen, aber auf der Weltmeisterschaftsebene war dies mein schönstes.

1990 erreichten Sie sensationell das WM-Viertelfinale in Italien. Dort schieden Sie dramatisch gegen England in der Nachspielzeit aus. Wurmt Sie die Niederlage noch?

Ach, nein. Wir haben alles versucht gegen England. Mit etwas mehr Konzentration hätten wir ins Halbfinale einziehen können. Aber Gott hat das so beschlossen. Wir standen dort unten auf dem Spielfeld, aber er hat oben für uns entschieden. Man kann nicht alles gewinnen.

Coach Waleri Nepomnjaschtschi wollte Sie damals nicht mit nach Italien nehmen, mit 38 Jahren gehörten Sie erst auf Geheiß von Kameruns Präsident Paul Biya zum Aufgebot der Nationalelf. Hat er Sie direkt angerufen?

Nein, er hat mich nicht direkt kontaktiert. Einige Minister haben darüber diskutiert und mich dann über einen Freund kontaktiert. Ich habe damals auf Réunion gespielt, im Paradies. Als ich gehört habe, dass der Präsident öffentlich meine Teilnahme in Italien fordert, konnte ich natürlich nicht absagen.

Ihre Tänze an der Eckfahne nach den Toren bei der WM 1990 gingen um die Welt. Haben Sie so schon früher Treffer bejubelt?

Noch nie. Bei der WM war es das erste Mal. Es gab keine Idee dahinter, das war total spontan. Ich habe mich einfach gefreut und wollte allen Kamerunern und allen Zuschauern, die mich unterstützt haben und mich bei der WM dabeihaben wollten, eine Freude bereiten. Das war's.

Heute ist der Fußball komplett durchgeplant und es gibt strikte Regeln. Wie hat die Kamerun-Elf 1990 die tolle WM gefeiert?

Die Heimkehr war toll. Wir wurden von allen Kamerunern wunderbar empfangen. Es gab eine große Party. Aber wir haben natürlich auch schon ordentlich gefeiert, bevor wir heimgeflogen sind. Aber nicht, als wir noch im Turnier waren.

Wann haben Sie denn zum letzten Mal an einer Eckfahne getanzt?

Mein letzter Tanz? (lacht) Das war tatsächlich bei der Weltmeisterschaft 1994. Danach habe ich ja nie wieder gespielt.

Damals erzielten Sie mit 42 als ältester Spieler überhaupt ein Tor bei einer WM. Der Rekord steht bis heute.

Das gelingt auch abseits einer WM nicht vielen. Ich habe als Fußballspieler ein gesundes Leben geführt und keinen Quatsch gemacht. Für den Rekord brauchte ich eine herausragende Technik und Physis. Das ist alles. Um gegen einen jüngeren Spieler zu bestehen, muss man clever und stark sein. Ich hatte von Anfang an Trainer, die mir alles beigebracht haben. Ich war schnell, hatte eine sehr, sehr gute Technik und eine starke Physis. Ich musste mir damals keine Sorgen machen.

Heute schießt etwa Cristiano Ronaldo noch Tore im hohen Alter. Er ist ein toller Spieler, aber ich bin nicht Cristiano Ronaldo. Er ist Cristiano und ich bin Roger Milla. Vergleiche bringen uns nicht weiter.

Sie waren mehr als ein Fußballspieler, auch weil Sie Afrika im Weltfußball zu einem ersten Ruhm verhalfen. 32 Jahre später stand mit Marokko erstmals eine afrikanische Mannschaft in einem WM-Halbfinale…

… und ich habe mich sehr gefreut und das wertgeschätzt. Marokko hat eine wunderbare Weltmeisterschaft gespielt. Das war wie bei uns, niemand hat ihnen das zugetraut. Wir haben damals mit unserem Viertelfinaleinzug, dem ersten eines afrikanischen Teams, dafür gesorgt, dass Afrika drei Startplätze bei den folgenden Weltmeisterschaften erhielt.

Und wann sehen wir den kamerunischen Nationaltrainer Roger Milla mal bei einer WM?

Niemals. Das ist nichts für mich. Ich möchte meine Würde bewahren.

Es gibt eine Geschichte, dass Sie nach der WM 1990 eine deutsche Mannschaft unter Vertrag nehmen wollte.

Ja klar, Schalke 04.

Warum kam es im Januar 1991 doch nicht zum Wechsel zum Revierklub?

Mein Agent hat mich eines Tages angerufen und mir erzählt, dass Schalke mich verpflichten will. Ich war damals aber schon 39 Jahre alt und stand nicht gut im Training. Ich habe also gesagt: Es ist schwierig für mich, aber ich kann nach Deutschland kommen, um den Verein kennenzulernen. Ich habe auch mit Schalkes Präsident gesprochen. Aber am Ende haben mir ein paar Sachen im Vertrag nicht gefallen und ich hätte den Fans in meinem Alter auch nicht mehr genug bieten können. Es ging aber nicht ums Geld.

Schade, Deutschland hätte sich sicherlich über Sie gefreut. Dafür sind Sie aber in Ihrer Kindheit viel herumgekommen.

Mein Vater arbeitete sein ganzes Leben bei der Eisenbahn. Oh, was ich da alles zu Gesicht bekommen hab! Ich bin in den 1950er Jahren mit dem Zug durch das ganze Land gefahren und habe alle Dörfer und Städte Kameruns gesehen. Ich war stolz auf meinen Vater und mein Land. Damals hatte ich noch keine Ahnung, was alles auf mich zukommen würde.

Was sagten Ihre Eltern, als Sie plötzlich Fußballer werden wollten?

Meine Eltern waren dagegen, dass ich Fußball spiele. Ich wollte immer mit meinen Freunden kicken, aber unsere Eltern wollten, dass wir zur Schule gehen. Ich habe aber auch nicht spekuliert, eine Fußballerkarriere zu starten, das ist einfach passiert.

Momentan sind Sie dafür als Botschafter für die Veteran Clubs World Championship unterwegs. Was passiert da im nächsten Jahr in Ruanda?

Das ist ein tolles Projekt, das weltweit erste Turnier für Legenden. Es kommen viele ehemalige großartige Spieler aus der ganzen Welt zusammen, die wir wieder aus der Anonymität herausholen. Viele haben sie früher bejubelt, aber dann hat man lange nicht mehr über sie gesprochen. Manche hatten auch nie die Chance, zum großen Star zu werden, weil damals andere Zeiten herrschten und es etwa nicht überall Fernseher gab. Wir machen sie nun der jüngeren Generation wieder bekannt, wir geben den Alt-Stars eine neue Chance.

Ruanda ist fußballverrückt und wurde auch ausgewählt, weil es nächstes Jahr 30 Jahre Unabhängigkeit feiert und wir der Welt zeigen wollen, was das Land alles auf die Beine stellen kann.

Auf wen dürfen sich die Fans freuen?

Sicher dabei sind etwa schon Jay-Jay Okocha, den die Bundesliga noch gut kennt und auch Lilian Thuram, Marcel Desailly und Robert Pires aus Frankreich. Aus Brasilien kommen Maicon und Sony Anderson, aus Togo kommt Emmanuel Adebayor, aus Ghana ist Anthony Baffoe dabei und aus Japan Tsuneyasu Miyamoto. Natürlich wird auch mein Landsmann Samuel Eto'o nicht fehlen.

Mit Roger Milla sprach David Bedürftig