Germany
This article was added by the user . TheWorldNews is not responsible for the content of the platform.

Mobbing und Schikane in der Schule: Ein Experte erklärt, wie Eltern ihren betroffenen Kindern helfen können

Ein fieser Spruch auf dem Gang, ein frecher Streich mit dem Mäppchen des Nebensitzers. Was für Außenstehende wie eine harmloser Scherz unter Kindern wirken kann, ist für Betroffene oft eine Demütigung. Mobbing und Schikane unter Schülerinnen und Schülern kommt auch in unterfränkischen Klassenzimmern vor. Laut einer 2017 veröffentlichten PISA-Studie der OECD leidet in Deutschland jede sechste Schülerin und jeder sechste Schüler im Alter von 15 Jahren unter den Auswirkungen von Mobbing. Die Folgen können sozialer Rückzug, Isolation und schwere psychische Probleme sein. 

Leander Müller, Sozialpädagoge beim Sozialdienst katholischer Frauen (SkF) in Würzburg, berät täglich Kinder, Jugendliche und Familien in schwierigen Lebenssituationen und war lange als Jugendsozialarbeiter tätig. Im Gespräch erklärt Müller, warum es zu gezielter psychischer Gewalt unter Heranwachsenden kommt und wie Eltern betroffenen Kindern den Rücken stärken können.

Herr Müller, warum kommt Mobbing gerade in Schulkassen vor?

Leander Müller: Kinder kommen in einer Schulkasse unfreiwillig zusammen. Es fragt niemand danach, ob sie einander kennenlernen möchten oder nicht. In einer Gruppe, die mit einem gewissen Zwang zusammengestellt wird, entstehen Konflikte. Der Grund dafür ist, dass jedes Kind eigene Bedürfnisse besitzt wie die Suche nach Bindung, Anerkennung oder Sicherheit. In einer Schulklasse geht es darum, dass diese Bedürfnisse erfüllt werden. Beim Zusammenleben als Gruppe bekommt jeder seine Rolle.

Also ohne die Anwesenheit einer Lehrkraft oder eines anderen Erwachsenen? 

Müller: Ja, und Kinder haben verschiedene Wertevorstellungen. Alle Kinder gehen mit einem Konflikt anders um. Jeder und jede erfüllt seine oder ihre Bedürfnisse anders. Während eine Person eine gewisse Verhaltensweisen vielleicht für wenig schlimm hält, fühlt jemand anderes sich davon tief verletzt. So kommt es vor, dass einzelne Attacken ausprobiert werden. Nach dem Motto: "Da ist jemand anders als ich, darum mache ich einen abwertenden Spruch und warte ab, wie die Person oder der Rest darauf reagiert."

Welchen Einfluss hat die Gruppe auf das Mobbingverhalten?

Müller: Lacht die Gruppe dann, glaubt der Täter oder die Täterin, in der gemobbten Person jemanden gefunden zu haben, mit der sie sozusagen ihr Streben nach Anerkennung befriedigen kann. Die Auswahl, wer attackiert wird, findet nicht unbedingt bewusst statt. Täter erfahren durch ihr Handeln, wie viel Einfluss sie haben, und gemeinsam mit ihren Assistenten oder dem Publikum erleben sie ein Gruppengefühl. Mobbing befriedigt also auf eine gewisse Art diese Bedürfnisse von Kindern.

"Die Gruppendynamik ist entscheidend. Ohne die Gruppe gäbe es überhaupt kein Mobbing."

Leander Müller, Sozialpsychologe aus Würzburg
Das heißt, dass die Dynamik in einer Gruppe eine entscheidende Rolle spielt?

Müller: Richtig. Die Gruppendynamik ist entscheidend. Ohne die Gruppe, könnte man sagen, gäbe es überhaupt kein Mobbing. Die Klasse, die zusammenkommt, die Dynamik, die sie bei kleineren Konflikten entfaltet, und eben die Hierarchie und die Rollenverteilung innerhalb der Gruppe sind alles Dinge, die sich auf das Mobbingverhalten einzelner Personen auswirken.

Können Sie anhand eines konkreten Falls erläutern, wie sich Mobbing in einer Schule äußert?

Müller: Eine Schülerin in einer fünften Klasse wurde einmal wegen ihres Akzents ausgelacht. Dies geschah zunächst offen. Nach dem Eingriff der Lehrkraft noch still und heimlich in der Klasse, wenn die Lehrkraft nicht anwesend war. Am Anfang gab es noch einzelne Mitschüler, die das Kind verteidigten. Als auch diese vom Täter ausgelacht und fertig gemacht wurden, bröckelte die Unterstützung für das Mädchen. Auch die Schüler, die nicht direkt betroffen waren, bekamen mehr und mehr Angst vor den Folgen.

Lesen Sie auch:
Wie ging es weiter?

Müller: Das Mobbing weitete sich aus. Mäppchen wurden vom Tisch geschmissen, Kleidungsstücke versteckt. In einem anderen Fall stiegen andere Schüler sofort ein, sobald ein bestimmter Schüler etwas in der Whatsapp-Klassengruppe geschrieben hatte. Das waren zunächst Witze über den Beitrag in der Gruppe. Es entwickelte sich schnell zu Beleidigungen, die von vielen kommentiert wurden. Mobbing und Cybermobbing treten häufig gleichzeitig auf. Das Schlimme daran ist, dass Täter so jederzeit ihre Angriffe starten können.

Woran erkenne ich, dass mein Kind von Mobbing betroffen ist?

Müller: Direkte Merkmale, dass es sich um Mobbing handelt, gibt es nicht. Sozialer Rückzug, das Gefühl von Einsamkeit oder Traurigkeit können erste Anzeichen sein. Auch Schulleistungen lassen in vielen Fällen nach, ebenso wie das Interesse für andere Freizeitbeschäftigungen. In der Regel gehen betroffene Kinder nicht mehr gern zur Schule. 

Wie sollte ich als Elternteil damit umgehen, wenn mein Kind von Mobbing betroffen ist?

Müller: Betroffene fragen sich oft: "Warum ich und wie schaffe ich es mich zu wehren?" Zunächst können Eltern mit ihren Kindern einfach über Mobbing sprechen. Sie sollten auf keinen Fall die Eltern des mobbenden Kindes ansprechen oder es selbst. Opferschutz geht vor Täter-Bestrafung. Viele Eltern haben den Reflex ihr Kind dadurch zu beschützen, in dem andere konfrontiert oder angegriffen werden. Ratschläge wie "Du musst dich einfach nur richtig wehren oder deine Grenzen deutlich machen" wären ebenfalls falsch.

Was, wenn diese Grenzen weiter überschritten werden?

Müller: Anderen die eigenen Grenzen deutlich zu machen, verlangt viel Übung. Stattdessen kann man sagen, dass die Situation wirklich schwierig ist und man zusammensteht. Also Verständnis und Sensibilität zeigen. Auch den Blick zu weiten, dass es neben der schwierigen Situation andere Lebensbereiche gibt, wo das Leben in Ordnung ist, hilft etwas. Auf jeden Fall sollten Eltern dafür sorgen, professionelle Fachkräfte in der Schule zu informieren, dass vor Ort gehandelt werden kann oder sich externe Hilfe suchen.

Lesen Sie auch:
Wo und wie häufig kommt Mobbing unter Kindern noch vor?

Müller: Hier gibt es keine einheitliche Datenlage. Dennoch wird man in der Schulsozialarbeit immer wieder damit konfrontiert. In der PISA-Studie von 2015 gaben zirka 15 Prozent der Schülerinnen und Schüler an, Mobbingattacken erlebt zu haben. In der JIM-Studie von 2019 haben acht Prozent der Befragten angegeben, schon einmal direkt Cybermobbing - also Attacken über digitale Medien -  erlebt zu haben.

Spielt die Schularten eine Rolle?

Müller: Mobbing ist aggressives Verhalten, das gibt es an allen Schularten. Bei Grundschülern kann man eher offene und körperliche Gewalt beobachten. Jugendliche neigen zu indirekten Formen, wie der Verbreitung von Gerüchten oder Aussagen, die von Außenstehenden nicht direkt als Mobbing erkannt und sanktionieren werden können. Jungen provozieren zudem andere gerne so lange, bis die Person ausflippt. Bei Mädchen wird eher mal eine andere aus der Gruppe ausgeschlossen.

Welche konkreten Folgen kann Mobbing für ein Kind haben?

Müller: Kinder sind zunächst verunsichert und wissen nicht, wie sie sich richtig zur Wehr setzen sollen. Die Forschung hat gezeigt, dass beim Ausschluss aus der Gruppe ähnliche Hirnregionen aktiviert werden wie bei echten körperlichen Schmerzen. Mobbing tut also weh. Die Folgen sind Bauch- und Kopfschmerzen. Außerdem können sich Ängste entwickeln, weil man allein den aggressiven Handlungen der anderen nicht entgegentreten kann. Die Betroffenen ziehen sich eher zurück und wollen nicht über ihre Erlebnisse sprechen. Für sie gleicht das Gefühl gemobbt zu werden einer gewissen Ohnmacht. Nicht selten geben sie sich selbst die Schuld für das Verhalten der anderen.

"Mobbing tut weh."

Sozialpädagoge Leander Müller über die Wirkung der Schikanen
Wirkt sich Mobbing auch auf andere in der Klasse aus?

Müller: Manche werden selbst zum Täter, um sich zu schützen, nach dem Motto: "Bevor ich verletzt werde, tue ich lieber anderen weh." Mobbing betrifft auch die schweigende Masse. Wo Mobbing geschieht, leidet die gesamte Klasse. Weil der Werte- und Normenrahmen wiederholt verletzt wird, also die Regeln, auf denen unser Zusammenleben basiert, erschüttert werden. 

Kann ich mein Kind davor bewahren, gemobbt oder gar selbst zum Täter zu werden?

Müller: Kinder können schon sehr früh lernen, wie setze ich mich zur Wehr, ab wann mache ich meine Grenzen deutlich und traue ich mich einzustehen für meine Bedürfnisse. In der Familie kann man Kinder dazu ermutigen, die eigene Meinung mitzuteilen. Aber auch Verständnis und emotionale Beteiligung zu fördern hilft. Also sich in andere hineinzuversetzen, wie es ihnen geht nach einer aggressiven Auseinandersetzung, wie auch die eigenen Konflikte in der Familie gelöst werden und was diese auslösen.

Wie kann ich meinem Kind noch helfen?

Müller: Es ist wichtig, dass Jugendliche die Erlaubnis haben, sich Hilfe zu holen und Unterstützung zu erfahren, auch ohne die Eltern. Erste Ansprechperson darf in dem Fall immer eine Lehrkraft des Vertrauens sein. Die meisten Schulen haben mittlerweile ein Unterstützungsnetzwerk, um Mobbing zu begegnen. An Grund- und Mittelschulen gibt es Jugendsozialarbeit an Schulen, an Realschulen gibt es vereinzelt Schulsozialpädagogik, an Gymnasien gibt es Schulsozialpädagogen oder Schulpsychologen.