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Nancy Faeser über Flüchtlinge: "Je länger der Krieg, desto schwieriger ist es"

Geflüchtete müssen wieder in Turnhallen und Zelten wohnen, Vergleiche zu 2015 machen die Runde. Innenministerin Faeser verteidigt sich jedoch gegen Kritik.

Mehr Geflüchtete, weniger Platz: So lässt sich die aktuelle Situation in den Unterkünften zusammenfassen. Vielerorts werden wieder Turnhallen umfunktioniert, immer mehr Städte verhängen Aufnahmestopps. "Wir wollen keine Zustände wie 2015/2016, steuern aber genau darauf zu", warnte der Präsident des Deutschen Landkreistages, Reinhard Sager, im Gespräch mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND).

Auch CDU-Chef und Oppositionsführer Friedrich Merz sagte im t-online-Interview, dieses Jahr seien so viele Menschen zu uns gekommen wie seit 2015 nicht mehr. Steuert Deutschland auf eine neue Krise zu?

Der Großteil der momentan in Deutschland Schutzsuchenden kommt aus der Ukraine: Nach neusten Angaben auf t-online-Anfrage spricht das Bundesinnenministerium von 1.002.763 registrierten Kriegsflüchtlingen aus dem Land. Um Sozialleistungen zu erhalten, müssen sie keinen Asylantrag stellen.

35 Prozent mehr Asylanträge als 2021

Wie viele Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine sich tatsächlich noch in Deutschland befinden, kann jedoch kaum festgestellt werden: Zum einen lassen sich nicht alle Ukrainer sofort oder überhaupt registrieren, zum anderen wird nicht erfasst, wie viele von ihnen bereits wieder ausgereist sind.

Hinzu kommen die regulär Asylsuchenden: Bis Ende August wurden in Deutschland in diesem Jahr laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) 115.402 Erstanträge auf Asyl gestellt, 35 Prozent mehr als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Die meisten Antragsteller kamen dabei aus Syrien, Afghanistan und dem Irak.

Viele von ihnen reisen über das östliche Mittelmeer, also die Türkei und Griechenland und den Westbalkan bis nach Mitteleuropa. Über Serbien und Tschechien etwa gelangen sie nach Deutschland.

Faeser: "Das macht mir Sorge"

Die Bundesinnenministerin beunruhigt diese Entwicklung: "Neben der großen Fluchtbewegung aus der Ukraine kommen derzeit auch über das Mittelmeer und die Balkanroute wieder mehr Menschen nach Europa. Das macht mir Sorge", sagt Nancy Faeser zu t-online.

Denn schon jetzt sind viele Landkreise und Kommunen mit der Unterbringung überlastet. Vielerorts werden wieder Zelte aufgebaut, Turnhallen umfunktioniert – die regulären Aufnahmeeinrichtungen sind überfüllt. Beispiel Niedersachsen: Hier lag die Auslastung der landeseigenen Aufnahmebehörde zuletzt bei 123 Prozent. Jugendherbergen und Container sollen Abhilfe schaffen, auch eine ehemalige Kaserne soll wie schon 2015/16 wieder zur Unterbringung von Geflohenen dienen. Denn nicht nur die Asylsuchenden müssen untergebracht werden, sondern auch die geflohenen Ukrainer.

"Niemand möchte leichtfertig Turnhallen belegen"

"Die Lage bei der Unterbringung der Flüchtlinge ist ähnlich wie während der Flüchtlingskrise 2015/2016", sagte der Geschäftsführer des niedersächsischen Landkreistages, Hubert Meyer, dazu. Die Möglichkeiten, Geflüchtete in privaten Wohnungen unterzubringen, seien weitgehend erschöpft. "Niemand möchte leichtfertig Turnhallen belegen. Aber wir stehen vor einer Situation, in der sich das in den kommenden Wochen und Monaten nicht vermeiden werden lässt."

Ähnliche Meldungen gibt es aus anderen Bundesländern. "Längst haben die Flüchtlingszahlen wieder das Niveau von 2015 erreicht", sagte kürzlich NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst. Wenn Kälte und Nässe in den nächsten Monaten in die zerbombten ukrainischen Wohnungen eindringen, würden weitere Menschen kommen – "kommen müssen", ergänzte der CDU-Politiker. "Ihre anständige Unterbringung und Versorgung zählt zu den großen Aufgaben im Herbst und Winter für Kommunen und Länder."

"Je länger der Krieg dauert, desto schwieriger ist es"

Beim Bund weiß man um die Probleme: "Je länger der Krieg dauert, desto schwieriger ist es, so viele Geflüchtete gut unterzubringen und zu versorgen. Wir stehen hier ganz eng an der Seite der Kommunen, die stark belastet sind", sagt Bundesinnenministerin Faeser t-online. Zwei Milliarden Euro und Platz für 64.000 Menschen in bundeseigenen Gebäuden würden zur Verfügung gestellt, so die SPD-Politikerin. Weitere Immobilien für die Unterbringung von Geflüchteten sollen folgen.

"Bündel von Maßnahmen" gegen illegale Einreisen

Faeser will nun gegensteuern, spricht von einem "Bündel an Maßnahmen". Bereits im Mai habe man die Grenzkontrollen zu Österreich verlängert – auch das Alpenland meldet hohe Migrationszahlen. An der Grenze zu Tschechien kontrolliere die Bundespolizei verstärkt im Rahmen der Schleierfahndung. Dort kommen vor allem viele Migranten an, die über die Balkanroute und Serbien in die EU reisen. Österreich und Tschechien kontrollierten ihrerseits ihre Grenzen stärker. Faeser stimmt sich eng mit ihren Kollegen in Wien und Prag ab, wie sie sagt.

Tschechien hat aktuell die rotierende EU-Ratspräsidentschaft inne. Innenminister Vít Rakušan will die Entwicklung auf die Agenda beim nächsten EU-Innenministertreffen setzen. Auf Faesers Unterstützung kann er wohl setzen: "Wir sind gemeinsam in der Verantwortung, illegale Einreisen zu stoppen, damit wir weiter den Menschen helfen können, die dringend unsere Unterstützung brauchen", so die Innenministerin.

Doch klar ist: Die Zeit drängt. Denn es wird erwartet, dass die Zahl der in Deutschland Schutzsuchenden weiter steigen wird. In Ländern wie Afghanistan oder dem Iran verschlechtert sich die politische Lage zusehends. Nach einer entsprechenden Entscheidung Niedersachsens hatte Faeser an die anderen Bundesländer appelliert, Abschiebungen in den Iran auszusetzen.

In der Ukraine kommt der Winter, der vermutlich noch mehr Menschen in die Flucht treiben wird. Und auch aus Russland werden mehr Geflüchtete erwartet – Kriegsverweigerern will die Bundesregierung Asyl gewähren. Entspannung ist somit vorerst nicht in Sicht, auch wenn eine plötzliche "Flüchtlingswelle" wie 2015 wohl nicht zu erwarten ist.

Sie verweist auf den anstehenden Flüchtlingsgipfel: Kommunale Spitzenverbände und, nach Kritik, nun auch Vertreter der Bundesländer sind eingeladen, "damit wir unsere Hilfe bestmöglich koordinieren", sagt Faeser. "Auch mit Blick auf die Wintermonate, die vor uns liegen." Aus ihrem Ministerium hieß es zuvor, die Unterbringung der Menschen werde nur mit einer "gemeinsamen Kraftanstrengung" von Bund, Ländern und Kommunen gelingen.

Kommunen befürchten Unterbringungsengpass

Mehr Unterstützung vom Bund, das hatten die Kommunen vorher dringend gefordert. Der Städte- und Gemeindebund hatte sich Ende September gemeinsam mit dem Deutschen Landkreistag in einem Brandbrief an Olaf Scholz gewandt.

"Die Kommunen stehen schon heute vor einer Situation wie in den Jahren 2015 und 2016", warnte der Hauptgeschäftsführer des Städte- und Gemeindebundes, Gerd Landsberg, in der "Bild am Sonntag". Kämen noch mehr Flüchtlinge, steuere man "auf einen echten Unterbringungsengpass im Winter zu".

Faeser verteidigt sich gegen Kritik

Dennoch will Faeser Kritik, wie zuletzt beispielsweise von CDU-Chef Merz, nicht gelten lassen. Dieser hatte im t-online-Interview der Ampelkoalition vorgeworfen, die Grenzen des Migrationsrechts zu verwischen. "Diese Bundesregierung will offenbar die Zuwanderung erheblich ausweiten, statt sie in geregelte Bahnen zu lenken."

Die Innenministerin hingegen sagt nun: "Wir haben das Leben vieler Frauen und Kinder aus der Ukraine gerettet. Diese Menschen gut zu versorgen, ist ein großer humanitärer Kraftakt." Aber: "Wir haben diese Riesenaufgabe bisher gut bewältigt, deutlich besser als bei früheren Fluchtbewegungen", verteidigt Faeser sich gegen Vergleiche mit der Situation von 2015/16.

"Mit 2015 ist das nicht zu vergleichen"

Migrationsforscher geben ihr recht – zumindest zum Teil: Franck Düvell von der Universität Osnabrück erklärte im Interview mit dem "Stern", die aktuell hohen Zahlen seien durch einerseits einen Rückstau durch die Pandemie und andererseits durch eine Vielzahl an Krisen zu erklären.

So fürchteten viele Syrer und Afghanen in der Türkei momentan die Abschiebung. In Libyen, wo sich viele Migranten aufhalten, sei die politische Lage ebenfalls zunehmend instabil. "Aber auch wenn nun mehr Menschen in der Türkei und Libyen aufbrechen, muss man deutlich sagen: Mit 2015 ist das nicht zu vergleichen", so Düvell.

Andererseits wundere er sich über die mangelnde Voraussicht der Bundesregierung: "Es wurden keine Vorbereitungen getroffen. Und jetzt sind alle ganz überrascht, dass die Zahlen steigen und manche Kommunen an ihre Grenzen stoßen."