Lambrecht-Abschied: Ritual mit Risiko
Ich habe wenig Verständnis für die moderne Neigung, bewährte Rituale abzuwandeln. Sieht denn niemand, dass das für alle Beteiligten vor allem anstrengend ist? Wenn bei einer Trauerfeier zum Beispiel von einem erwartet wird, andächtig deplatzierten Liedern zu lauschen, ist man gedanklich doch gar nicht mehr mit dem Todesfall beschäftigt, sondern nur noch mit sich selbst und der Frage, was das nun wieder soll.
Heute nach Sonnenuntergang, ab 20.30 Uhr, steht ein Ritual an, das sich in seinen Grundzügen zwar bewährt hat, zugleich aber auch zu viel Raum für Ideen lässt, die schiefgehen können: der Große Zapfenstreich.
Diesmal wird Christine Lambrecht offiziell aus dem Amt der Verteidigungsministerin verabschiedet. Sie ist im Januar zurückgetreten, nachdem die Öffentlichkeit genug von ihr hatte und ihr vor allem einen Auftritt zu Silvester vor einem Feuerwerk nicht verzeihen wollte.
Ex-Verteidigungsministerin Lambrecht (mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 19. Januar in Schloss Bellevue)
Foto: Maja Hitij / Getty ImagesChristine Lambrecht ist als Verteidigungsministerin gescheitert, das stimmt. Aber sie war 23 Jahre lang Mitglied des Bundestags – das war ein großer Einsatz für die Politik. Ein würdevoller Abschied wäre nun wünschenswert.
Doch allein schon die eine Besonderheit beim Großen Zapfenstreich, dass sich die Hauptperson drei Lieder wünschen darf, birgt Risiken. Egal, was gewünscht wird, es ist immer möglich, darüber zu spotten. Warum sucht man bei so heiklen Anlässen nicht einfach nach Ritualen, bei denen nichts, aber auch gar nichts schiefgehen kann?
Bei Twitter kursieren ja jetzt schon Witze, welche Songs für Lambrecht gespielt werden könnten: Natürlich ist »Firework« von Katy Perry unter den Vorschlägen.
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Koalitionsausschuss: Nächtliches Fingerhakeln
Die erste Runde hat lang gedauert. Zu lang, als dass glaubwürdig wäre, was die Ampelparteien in ihrer gemeinsamen Erklärung über die Sitzung des Koalitionsausschusses verlauten ließen: Die Beteiligten seien gestern und vorgestern in »vertrauensvollen und konstruktiven Gesprächen weit vorangekommen«.
Kanzler Scholz (vorne) und mehrere Mitglieder seiner Regierung unterbrechen den Koalitionsausschuss, um nach Rotterdam zu fliegen
Foto: Michael Kappeler / dpaEine weitere Zusammenkunft des Koalitionsausschusses ist auf heute vertagt worden.
Dass sich die erste Runde über fast 20 Stunden am Stück hingezogen hat, kann eigentlich kein gutes Zeichen sein. Verhaken sich die Koalitionäre? Geht es wieder nicht voran? Diese Fragen beschäftigten gestern das ganze Land.
Spätestens seit Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) vergangene Woche in einem Fernsehinterview seinen Ärger über den Zustand der Koalition offenbart hat, ist klar geworden, dass es nicht gut um die Regierung steht.
Habecks Parteikollege Anton Hofreiter schlug vorgestern im ZDF ähnlich verärgerte Töne an, wobei sich sein Unmut vor allem gegen Kanzler Olaf Scholz (SPD) richtete: Der moderiere ja nicht einmal mehr, sagte er, und wollte damit ausdrücken, dass an eine Führung durch den Kanzler schon gar nicht zu denken sei.
Bei der Sitzung im Kanzleramt geht es um die Finanzierung der geplanten Kindergrundsicherung, die Zukunft des Autobahnbaus, um Klimaschutz im Verkehr, den Haushalt und den Umtausch von Öl- und Gasheizungen. Im Gespräch soll eine Abwrackprämie für Heizungen sein.
Sollten tatsächlich tragfähige Beschlüsse herauskommen, werden sich die Gemüter schnell beruhigen. Beratungen des Koalitionsausschusses im vergangenen September dauerten auch 18 Stunden. Als dann ein belastbarer Beschluss herauskam (die Einigung auf das dritte Entlastungspaket), herrschte großes Verständnis für die Dauer.
Sollten sich jetzt die Ergebnisse aber nur als mittelmäßig erweisen, das Verhältnis von Aufwand und Ergebnis also nicht stimmen, wird sich die Regierung auf erheblichen Unmut im Land einstellen müssen.
Die Gefahr der Erschöpfung
Die Verzweiflung über die Nachtsitzung des Koalitionsausschusses war gestern auch deswegen so groß, weil man das alles schon kennt. Angela Merkel als Kanzlerin hat Nachtsitzungen regelrecht zelebriert. Die Begeisterung im Land für diese Vorliebe hielt sich in Grenzen. Man fragte sich, was schon Gutes dabei herauskommen soll, wenn politische Spitzenkräfte Beschlüsse mit schweren Augenlidern durchwinken.
Merkel als müde Kanzlerin bei einer Haushaltsdebatte im Bundestag (2012)
Foto: Wolfgang Kumm/ picture alliance / dpaMerkel ist immer anerkannt worden, wie gut sie durchhalten konnte, wie fleißig sie war. 16 Jahre lang raste sie von Termin zu Termin. Im Nachhinein zeigt sich aber immer deutlicher, dass ihr bei wesentlichen Themen die großen Linien aus dem Blick geraten waren, sei es beim Klimaschutz, sei es in der Russlandpolitik.
Lag das auch am Terminstrudel, in den sie sich stürzte?
Bundeskanzler Olaf Scholz ließ gestern die Sitzung des Koalitionsausschusses unterbrechen, weil er und andere Teilnehmende nach Rotterdam fliegen mussten, zur vierten deutsch-niederländischen Regierungskonsultation. Heute geht nun die Ausschusssitzung weiter, doch der Terminkalender sieht für Scholz noch diverse andere Termine vor: Er muss Kenias Präsidenten William S. Ruto empfangen. Er muss eine Rede beim Forschungsgipfel 2023 halten und für ein anschließendes Gespräch bereitstehen. Er muss den Jahresempfang des Bundes der Vertriebenen eröffnen (ausgerechnet!). Und den Zapfenstreich gibt es ja auch noch.
Ein Bundeskanzler muss viel – sehr, sehr viel arbeiten. Anders geht es nicht. Aber niemand hat etwas davon, wenn es zu viel wird.
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Verlierer des Tages...
Ein junger Waschbär erkundet einen Garten
Foto: Patrick Pleul/ DPA...wird ein Dieb sein. In der Tierwelt gelten ja Ratten, Waschbären oder Hermeline als Eierdiebe. In der Menschenwelt sind österliche Süßigkeiten in Eiform besonders begehrt, und die Gier kann beim Menschen ja Ausmaße annehmen, über die Waschbären sich nur wundern können.
Folgender Fall trug sich in der Menschenwelt zu: Die Polizei in England hat einen mutmaßlichen Räuber von 200.000 (!) Schokoladeneiern mit seinem Diebesgut erwischt. Der 32-jährige Angeklagte bekannte sich vor Gericht schuldig. Heute soll das Strafmaß verkündet werden. Die Polizei beschrieb den Diebstahl als »eggs-travagant« (»eggs« bedeutet auf Englisch »Eier«) und den Einsatz aller Beteiligten beim Aufdecken der Gaunerei als »eggcellent«.
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