Kriegsschäden in der Nähe von Kiew (am 4. Dezember)
Foto:DIMITAR DILKOFF / AFP
Das sagt Kiew
Mit Blick auf die kalte Jahreszeit hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selesnkyj an das Durchhaltevermögen und die Widerstandsfähigkeit der Bevölkerung appelliert. »Der Feind hofft sehr, den Winter gegen uns zu verwenden: die Winterkälte und Not zu einem Teil seines Schreckens zu machen«, sagte er am Sonntagabend in seiner täglichen Videobotschaft. »Wir müssen alles tun, um diesen Winter zu überleben, egal wie hart er ist.« Diesen Winter zu ertragen bedeute, alles zu ertragen.
Russland habe zwar einen Vorteil durch Raketen und Artillerie. »Aber wir haben etwas, was der Besatzer nicht hat und nicht haben wird. Wir schützen unser Zuhause, und das gibt uns die größtmögliche Motivation«, betonte Selenskyj. Das ukrainische Volk kämpfe für die Freiheit und verteidige die Wahrheit, sagte er. »Um den Winter zu überstehen, müssen wir widerstandsfähiger und vereinter denn je sein«, appellierte Selenskyj an die Ukrainer.
Wolodymyr Selenkyj
Foto: Uncredited / dpaDer ukrainische Generalstaatsanwalt Andrij Kostin hat eine »drastische Zunahme« sexueller Gewalt durch russische Soldaten angeprangert. Infolge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine seien alle Geschlechter und Altersklassen betroffen, Kinder ebenso wie Alte, sagte Kostin der Funke Mediengruppe und der französischen Zeitung »Ouest-France«. Russische Soldaten setzten sexuelle Gewalt gezielt ein – als »Kriegsmethode, um Ukrainerinnen und Ukrainer zu demütigen«, sagte er.
Kostin sagte den Zeitungen, vor vier Monaten seien erst 40 Fälle von sexueller Gewalt registriert worden, aber mittlerweile seien es mehr als 110 Fälle. »Tendenz stark steigend.« Zudem gebe es eine hohe Dunkelziffer. »In vielen Fällen werden Menschen durch russische Soldaten vergewaltigt, gefoltert und danach getötet. Oft finden Vergewaltigungen vor den Augen von Angehörigen und Kindern statt«, sagte Kostin. Betroffen seien vor allem besetzte Gebiete. Oft hätten russische Kommandeure Vergewaltigungen angeordnet oder zumindest unterstützt, so Kostin. Die Angaben des Generalstaatsanwalts ließen sich zunächst nicht unabhängig überprüfen.
Der Deutschland-Direktor der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, Wenzel Michalski, sprach ebenfalls von einer Systematik der Gewalt. »Gräueltaten an Zivilisten gehören zur Kriegstaktik der russischen Soldaten in der Ukraine«, sagte Michalski den Zeitungen der Funke Mediengruppe. »Die Gewalt der Soldaten einschließlich der Vergewaltigungen wird von der Spitze der russischen Politik und des Militärs nicht geahndet. Im Gegenteil: Kräfte, die besonders brutal vorgehen, werden noch ausgezeichnet«, sagte er. Die Gewalt werde von der Führung mindestens billigend in Kauf genommen.
Kostin zufolge wurden in der Ukraine seit Kriegsbeginn vor gut neun Monaten fast 8500 Zivilisten getötet, darunter 440 Kinder. Mehr als 11.000 Zivilisten seien verletzt worden. Die Generalstaatsanwaltschaft habe bislang 50.197 Fälle von Kriegsverbrechen aufgenommen, sagte er den Zeitungen.
Das sagt Moskau
Die Regierung in Moskau plant Insiderinformationen zufolge, russischen Unternehmen den Handel mit Ländern zu untersagen, die sich an den verhängten Preisdeckel für Rohölexporte auf dem Seeweg halten. Im Wesentlichen würde ein solches Dekret die Ausfuhr von Erdöl und Erdölerzeugnissen in Länder und Unternehmen verbieten, die die Obergrenze anwenden, erklärte eine mit der Angelegenheit vertraute Person der Nachrichtenagentur Reuters.
Der Ölpreisdeckel der G7- und der EU-Staaten sowie Australiens soll schon ab Montag gelten. Am Freitag hatten die G7, die EU und Australien eine Obergrenze von 60 Dollar (57 Euro) pro Barrel (159 Liter) für auf dem Seeweg transportiertes Öl aus Russland beschlossen. Durch den Preisdeckel soll es Moskau erschwert werden, die wegen des Ukrainekriegs verhängten Sanktionen durch Verkäufe an Drittländer außerhalb der EU oder der G7 zu umgehen.
Ab Montag gilt außerdem ein EU-Embargo für per Schiff transportiertes russisches Rohöl. Das betrifft rund zwei Drittel der russischen Ölimporte der EU. Für Importe über Pipelines gibt es noch eine Ausnahme, weil einige Mitgliedstaaten stark darauf angewiesen sind.
Humanitäre Lage
Das Uno-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) rechnet wegen des anhaltenden russischen Angriffskriegs eher mit einer Zunahme der Vertreibung innerhalb der Ukraine als mit einer großen Fluchtbewegung in Richtung der EU-Staaten. »Das wahrscheinlichste Szenario ist eine weitere Vertreibung innerhalb der Ukraine«, hatte UNHCR-Chef Filippo Grandi dem SPIEGEL gesagt. »Ich hoffe, dass es keine weitere große Flüchtlingsbewegung geben wird.« Gleichzeitig schränkte er ein: »Aber Krieg ist unberechenbar.«
Ihn beunruhige, dass diejenigen, die jetzt noch ins Ausland fliehen könnten, höchstwahrscheinlich mehr Unterstützung bräuchten. »Diejenigen, die bisher in der Ukraine geblieben sind, hatten entweder weniger Kontakte in Europa oder waren weniger mobil«, so Grandi weiter. Er zeigte sich zuversichtlich, dass die Staaten der EU bei Bedarf auch zusätzliche Flüchtlinge aus der Ukraine aufnehmen könnten. »Europa kann der Herausforderung noch eine Weile standhalten«, sagte er.
Mit Blick auf den Winter sagte Grandi: »Anders als im Frühjahr werden diesmal mehr öffentlich betriebene Unterkünfte nötig sein, und dafür werden Mittel benötigt.« Daher sollten Länder wie Polen und Tschechien, die eine besonders große Last zu tragen hätten, finanziell unterstützt werden, forderte er.
Angesichts des Winterwetters und anhaltender russischer Angriffe auf die zivile Infrastruktur des Landes – insbesondere auf Einrichtungen der Strom- und Wärmeversorgung – gab es zuletzt immer wieder Befürchtungen, dass nun viele weitere Ukrainer in die EU fliehen könnten. Dahingehend äußerte sich am Sonntag zum Beispiel auch der deutsche Botschafter in London, Miguel Berger. »Wir sind darüber sehr besorgt, denn diese Angriffe auf die Energieinfrastruktur bedeuten, dass viele Menschen in den eiskalten Temperaturen dazu gezwungen sein könnten, die Ukraine zu verlassen.«
Der Diplomat sagte dem britischen TV-Sender Sky News weiter: »Wir erwarten einen weiteren Schwung an Flüchtlingen in den kommenden Wochen.«
Russlands Einmarsch in die Ukraine Ende Februar hat dem UNHCR zufolge zur größten Vertreibung von Menschen seit Jahrzehnten geführt. Erst Anfang November hatte Grandi in New York gesagt, rund 14 Millionen Menschen seien seit Kriegsbeginn aus ihren Häusern vertrieben worden. Knapp acht Millionen haben dem UNHCR zufolge im Ausland Schutz gesucht, davon eine Million in Deutschland.