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Projekt "Umsatzmobilisierung": Putin leert die Kassen seiner Unternehmen

Für das vergangene Jahr meldet Russland das zweitgrößte Haushaltsdefizit seiner Geschichte. Hätte sich der Kreml nicht die Milliardengewinne von Gazprom unter den Nagel gerissen, wäre es sogar das größte gewesen - eine neue Realität auch für andere Staatskonzerne.

Russland hat im vergangenen Jahr gut 250 Milliarden Euro mit dem Verkauf von Erdöl und Erdgas verdient - und trotzdem musste Finanzminister Anton Siluanow im Januar ein Haushaltsloch von 44 Milliarden Euro (2,3 Prozent des BIP) vermelden. Es ist das zweitgrößte Minus der russischen Geschichte.

Aber selbst Minister Siluanow geht davon aus, dass der Rekord aus dem ersten Corona-Jahr 2020 (umgerechnet rund 54 Mrd. Euro) bereits in diesem Jahr fallen könnte: Denn 2023 sollen die Ausgaben für das Militär noch einmal um 71 Milliarden US-Dollar steigen, berichtet das russische Wirtschaftsportal RBK. Auch die Ausgaben für Posten wie "Nationale Sicherheit", zu der unter anderem die Polizei gehört, sollen um dieselbe Summe klettern. Und für Soldaten, ihre Familien, Rentner und Mindestlöhne werden ebenfalls immer größere Summen fällig - damit die Bevölkerung nicht doch noch aufbegehrt, wie vermutet wird.

Aber während die Ausgaben immer weiter steigen, sind die Preise für russisches Öl eingebrochen. Die Sanktionen der USA, von Europa und anderen funktionieren, sagt Ken Rogoff. Der Harvard-Ökonom hat eine sehr klare Meinung davon, wo die Reise für Russland hingeht: Er prophezeit der russischen Bevölkerung "unvorstellbare Armut", verglichen mit dem jetzigen Lebensstandard. Kuba, Nordkorea, Venezuela oder ein "riesiger Iran" - das sei die russische Zukunft, sagte er beim Weltwirtschaftsforum in Davos.

Projekt "Umsatzmobilisierung"

Um das zu verhindern, sucht der Kreml nach neuen Geldquellen - und scheint diese im Nationalen Wohlfahrtsfonds und bei den russischen Unternehmen gefunden zu haben. Der Wohlfahrtsfonds wurde 2008 aufgesetzt und investiert wie andere Staatsfonds in Aktien und andere Anlagen, um das russische Pensionssystem zu gewährleisten.

Im Januar lagerten nach Angaben des russischen Finanzministeriums 148 Milliarden Dollar in dem Fonds. Nach Angaben von Finanzminister Siluanow wurden allerdings bereits im vergangenen Jahr etwa 30 Milliarden Dollar entnommen und in den russischen Haushalt gesteckt. Sehr wahrscheinlich passiert das auch dieses Jahr, um etwaige Lücken zu schließen. Es ist allerdings unwahrscheinlich, dass die Mittel aus dem Fonds zur Haushaltsstabilisierung ausreichen - deshalb sollen auch russische Unternehmen einen Beitrag leisten.

Im Dezember soll sich der russische Ministerpräsident Michail Mischustin für höhere Dividenden und Einmalzahlungen von Staatsunternehmen eingesetzt haben. Die Vorschläge seien Teil des sogenannten Projekts "Umsatzmobilisierung" gewesen, berichtet Bloomberg unter Berufung auf russische Quellen. Die Ausschüttungen wären riesig: Wo immer möglich, sollen Dividenden von mehr als 50 Prozent der Gewinne festgelegt werden.

Ausschüttung nur für Putin

Es wäre nicht das erste Mal, dass der russische Präsident Wladimir Putin in die Kassen von Staatskonzernen greift, um seinen Feldzug gegen die Ukraine zu finanzieren. Im vergangenen Jahr hatte Gazprom stolz einen Rekordgewinn für das Jahr 2021 gemeldet und seinen Anlegern eine Rekorddividende von umgerechnet rund 20 Milliarden Dollar versprochen. Von diesem Geld haben die 19,8 Millionen Gazprom-Aktionäre keinen einzigen Cent gesehen.

Denn der größte Eigentümer, der russische Staat, entschied bei der Hauptversammlung mit seiner Mehrheit von 50,3 Prozent, dass eine Ausschüttung des Gewinns nicht angebracht sei, solange die "militärische Spezialoperation" läuft - und riss sich die gesamte Summe anschließend selbst als Übergewinnsteuer unter den Nagel. Eigentlich war das russische Haushaltsloch also schon im vergangenen Jahr 64 Milliarden Euro groß - und damit das größte der russischen Geschichte.

Zwei Trends

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Diese Art von Selbstbedienung ist womöglich der neue Alltag für russische Unternehmen, die sich in den Händen des Staates befinden. Denn der Ausblick ist alles andere als rosig, müssen selbst kremlnahe Wirtschaftsportale wie RBK in Analysen zugeben. Zwei Trends würden sich 2023 fortsetzen, schreibt das Moskauer Medienhaus: Die Ausgaben werden steigen und die Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft sinken. Oder anders gesagt: Bei seiner Cashcow Gazprom kann sich der Kreml eher nicht mehr so sehr bedienen wie beim letzten Mal.

Wie groß die Finanznöte des russischen Staates werden könnten, macht EU-Handelskommissar Valdis Dombrovskis klar. In Davos erinnerte er daran, dass die Preise für Öl und Gas im vergangenen Jahr astronomisch hoch waren - und trotzdem habe sich Russland in einer Rezession befunden.

Noch zwei Käsesorten

Deshalb sieht die Zukunft für die russische Wirtschaft auch ohne gierige Staatshand trübe aus. Politologe Alexander Libman macht dafür aber nicht in erster Linie Sanktionen, sondern die Teilmobilisierung verantwortlich. Mit jeder Welle werde die Personalnot größer, sagt der Russland-Forscher von der Freien Universität Berlin im ntv-Podcast "Wieder was gelernt". Es werde aber auch kein Unternehmen mehr investieren: "Das ergibt keinen Sinn, wenn nicht vorhersehbar ist, wie die Zukunft aussieht und man der Regierung nicht vertraut."

Anders als Harvard-Ökonom Rogoff erwartet Libman aber keine "unvorstellbare Armut", sondern eine Stagnation der russischen Wirtschaft. Die Zeit von Gazprom als russische Cashcow mag zwar vorbei sein - aber russische Öl-Unternehmen hätten sich gut an die Sanktionen angepasst, sagt der Berliner Politologe. Auch, weil sich große Länder wie China, Indien und Brasilien nicht an den Sanktionen beteiligen, sondern weiter eng mit Russland zusammenarbeiten und Geschäfte machen.

Daran würden sich die russischen Unternehmen anpassen, sagt Libman. Das könne westliche Technologien und westliches Geld nicht ersetzen, aber das Schlimmste verhindern.

Allerdings ist auch der Berliner Politologe überzeugt, dass diese Art von Durchhalte-Wirtschaft mittelfristig zu schleichend sinkenden Lebensstandards in Moskau, St. Petersburg und anderen Großstädten führen wird. "Die Menschen werden es nicht sofort merken", sagt Libman bei "Wieder was gelernt". Aber irgendwann würden europäische Angebote einfach durch russische ersetzt. "Früher hatten Sie meinetwegen 50 Käsesorten, jetzt nur noch zehn - und die sind teurer und schmecken deutlich schlechter", sagt der Politologe. "In zehn Jahren sind dann noch zwei Käsesorten übrig. Die russische Wirtschaft steht vor einer langsamen Degradation."

"Wieder was gelernt"-Podcast

"Wieder was gelernt" ist ein Podcast für Neugierige: Warum wäre ein Waffenstillstand für Wladimir Putin vermutlich nur eine Pause? Warum fürchtet die NATO die Suwalki-Lücke? Wieso hat Russland wieder iPhones? Mit welchen kleinen Verhaltensänderungen kann man 15 Prozent Energie sparen? Hören Sie rein und werden Sie dreimal die Woche ein bisschen schlauer.

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