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Putin über Nato-Osterweiterung: Expertin entlarvt Propaganda

Wladimir Putin benutzt Geschichte als Waffe, dem Westen wirft er Wortbruch wegen der Nato-Osterweiterung vor. Die Historikerin Mary Elise Sarotte entlarvt Putins Behauptungen als Propaganda.

Wladimir Putin bekriegt die Ukraine, seine Feindschaft aber gilt dem Westen insgesamt. Besonders gegen die Nato erhebt der russische Machthaber schwere Vorwürfe: Der Westen habe einst das Verteidigungsbündnis widerrechtlich nach Osten erweitert. Aber ist das die Wahrheit? Nein, sagt die amerikanische Historikerin Mary Elise Sarotte, die gerade ein Buch über die Nato-Osterweiterung veröffentlicht hat.

t-online: Professorin Sarotte, in der Ukraine lässt Wladimir Putin seine Soldaten auf dem Schlachtfeld kämpfen, aber der Kremlherrscher führt auch einen Krieg um die Köpfe. Dabei wollen Sie ihm entgegentreten. Wie gehen Sie als Historikerin dabei vor?

Mary Elise Sarotte: Wladimir Putin ist geradezu besessen – besessen von der Geschichte, wie er sie sieht. Immer wieder kam es an bestimmten Daten zu besonderen Ereignissen. Am 7. Oktober 2006 etwa starb die Journalistin und Kremlkritikerin Anna Politkowskaja in Moskau eines gewaltsamen Todes. Wissen Sie, was noch auf diesen Tag fiel?

Putin feierte seinen 54. Geburtstag.

Genau. Das ist seine Art zu feiern. Ob Putin Morde direkt anordnet oder stattdessen bestimmten Leuten zu verstehen gibt, dass zu bestimmten Jahrestagen etwas geschehen solle, weiß niemand. Aber wir sollten sehr vorsichtig sein, wenn sich ein historisches Ereignis jährt. Wann wurden die gestohlenen E-Mails von Hillary Clinton während des US-Präsidentschaftswahlkampfs 2016 veröffentlicht? Am 7. Oktober 2016, wieder einer von Putins Geburtstagen. Die Cyberangriffe, von denen Donald Trump im gleichen Wahlkampf profitierte, ereigneten sich ein Vierteljahrhundert, nachdem die Sowjetunion zusammengebrochen war.

Dr. Mary Elise Sarotte, Jahrgang 1968, ist Professorin für Historische Studien an der Johns Hopkins School of Advanced International Studies (SAIS) in Washington, D.C. Kürzlich ist ihr Buch "Nicht einen Schritt weiter nach Osten. Amerika, Russland und die wahre Geschichte der Nato-Osterweiterung" in Deutschland erschienen.

Für Putin war es nach eigener Aussage die "größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts". Sie sagen also, dass der russische Präsident bei seinen Schurkereien früh berechenbar gewesen sei?

In gewisser Weise. Die Auflistung ließe sich fortsetzen, aber ich denke, ein Trend wird bereits jetzt erkennbar: Putin begeht bestimmte Jahrestage mit Gewalt, er genießt die Anwendung von Gewalt, sei es physisch oder virtuell. In Anbetracht dieser Erkenntnis schaute ich seinerzeit auf den Kalender: Ich kam früh zu der Befürchtung, dass Putin im Zeitraum 2021/2022 – drei Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion – irgendetwas Schlimmes anstellen könnte.

Die russische Invasion der Ukraine am 24. Februar 2022 war dies ohne jeden Zweifel. Hatten Sie derartige Dimensionen erwartet?

Ich war mir sicher, dass Putin die Jahrestage in diesem Zeitraum nicht ignorieren würde. Aber dass er im Februar 2022 gleich Kiew binnen drei Tagen erobern wollte? Das habe ich nicht geahnt. Nach meiner früheren Erkenntnis über Putins Verhalten hatte ich im Laufe des Jahres 2021 noch versucht, Alarm zu schlagen in Form eines Artikels – aber sämtliche bedeutenden englischsprachigen Medien meines Landes haben abgesagt. Irgendwann habe ich aufgegeben.

Nach dem 24. Februar 2022 waren Sie allerdings dann überaus gefragt?

Ich habe an dem Tag in der Tat viele Anrufe und Mails von Redakteuren bekommen. Aber diese Geschichte zeigt weniger – und dieser Punkt ist mir wichtig –, dass ich ein besonders hellsichtiger Mensch wäre, sondern vielmehr die Bedeutung der Geschichte und ihres Studiums. Wer die Geschichte versteht, kann die Zukunft zwar nicht exakt vorhersagen, aber sich besser auf ihre Eventualitäten vorbereiten. Als Analytikerin bin ich also durch die bisherigen Ereignisse in meinem Glauben an die Geschichte als Methode gefestigt, als Mensch bin ich allerdings schockiert, dass es tatsächlich zum Krieg gekommen ist.

Damit sind wir wieder bei der Ausgangsfrage angekommen: Putin setzt Geschichte als Waffe ein, mit ihrem neuen Buch "Nicht einen Schritt weiter nach Osten. Amerika, Russland und die wahre Geschichte der Nato-Osterweiterung" wollen Sie ihm als Historikerin entgegentreten. Wie machen Sie das?

Am liebsten wäre es mir, wenn die russischen Soldaten einfach aufgeben würden. Danach sieht es jedoch nicht aus. Putin lässt sich aber auf andere Weise entwaffnen – und zwar indem ich ihm in meinem Buch als Historikerin nachweise, dass seine Propagandaerzählung von der Nato-Osterweiterung einfach nicht stimmt. Das ist nicht viel gemessen am Leid der Ukrainerinnen und Ukrainer, aber immerhin ist es ein Beitrag.