CDU und CSU fordern eine strengere Migrationspolitik, insbesondere Grenzkontrollen und eine Obergrenze. Der sächsische Innenminister Schuster erklärt im Interview, was er sich davon verspricht, was die Regierung seiner Meinung nach bei den Migrationsabkommen falsch macht und warum er eine Obergrenze richtig findet.
ntv.de: Herr Schuster, Sie schlagen Alarm wegen der wachsenden Zuwanderung von Asylbewerbern. Wie ist die Lage bei Ihnen in Sachsen?


Der CDU-Politiker Armin Schuster ist seit April 2022 sächsischer Innenminister, kommt aber aus Weil am Rhein an der Schweizer Grenze. Der 62-jährige frühere Bundespolizist saß elf Jahre für seinen Heimatwahlkreis im Bundestag und leitete von 2020 bis 2022 das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe in Bonn.
(Foto: picture alliance/dpa)
Armin Schuster: Hier kommen pro Tag 100 bis 150 Menschen an. Manchmal sind es auch 400 in einer Nacht. In den vergangenen beiden Wochen waren es jeweils etwa 1000. Jeden Tag fragen wir uns: Wie schaffen wir das? Ich kämpfe mit dem Finanzminister um mehr Geld für Unterkünfte. Wir kämpfen mit unserer Landesdirektion gemeinsam um die Frage, wie wir noch mehr Erstaufnahmeplätze bereitstellen können. Das ist mein Tagesgeschäft. Dazu kommen kapitale Szenen im Grenzraum.
Was für Szenen?
Ein verunfalltes Schleuserfahrzeug, mehrere Verletzte, eine tote Frau. Wir haben neulich einen kleinen Lieferwagen mit 20 Leute darin gestoppt. Vorgestern Nacht haben wir ein Auto mit einem 15-jährigen Fahrer am Steuer gestellt. Wir machen Fahrzeuge auf, in denen die Dichtungen von innen rausgerissen wurden, weil die Insassen Luftnot haben. Ich gehe davon aus, dass bald etwas passiert. Das ist für mich nur eine Frage der Zeit. Es könnte auch zu einem schweren Unfall kommen. Oder wir machen eine Ladefläche auf und sehen furchtbare Bilder.
Die bundesweiten Zahlen zeigen dabei eine steigende Tendenz.
September, Oktober, November sind häufig die Monate mit dem meisten Ankünften. Diese Zeit hat gerade erst angefangen. Das liegt daran, dass die Menschen sich im Sommer auf den Weg machen und dann im Herbst bei uns ankommen. Wenn Sie sich nun vorstellen, dass jede Woche 1000 Menschen kommen, brauche ich 1000 Betten. Und möglichst nicht in Turnhallen, wenn möglich ohne Zelte. Ohne Containerdörfer geht es schon nicht mehr.
Wenn dieses Jahr vielleicht 300.000 Menschen nach Deutschland kommen, ist das doch deutlich weniger als die knappe Million, die 2015 und 2016 zu uns kamen. War das nicht noch eine andere Dimension?
Sie dürfen die mehr als eine Million Ukrainer in der Bilanz nicht vergessen. Außerdem ist die Krise von 2015 und 2016 ja noch nicht geschafft. Die Menschen sind bei uns und haben auch nicht alle eine Wohnung. Zum Teil sind sie noch in Gemeinschaftsunterkünften. Zu den 240.000 Zugereisten im vergangenen Jahr könnten dieses Jahr noch einmal 350.000 hinzukommen. Damit liegen wir weit über dem Niveau von 2015 und 2016.
Wie sieht es mit der Akzeptanz in der Bevölkerung aus? Wenn Sie sich ein Messgerät vorstellen - wie nah ist der Zeiger im roten Bereich?
Der Zeiger ist mit Sicherheit im orangeroten Bereich. Was mich sorgt ist, dass die Menschen mehr und mehr Sicherheitsbedenken bis hin zu Ängsten äußern.
Das ist doch ein Dauerbrenner der Debatte und nicht neu.
Nicht prinzipiell neu, aber zwischen 2018 und 2020 war dieses Thema praktisch weg. Der Grund ist aus meiner Sicht relativ einfach: Die Union hat sich nach 2015 und 2016 intern zwar fast zerrissen, dann aber auf einen Masterplan Migration mit flexibler Obergrenze geeinigt.
Sie spielen auf 2018 an, als Merkel und Seehofer um die Obergrenze stritten. Sogar die Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU stand infrage.
Es war brutal. Aber danach gab es einen Konsens. Die Strategie hieß Humanität und Ordnung.
Die Obergrenze hat nun auch Bayerns Ministerpräsident Markus Söder aufgegriffen. Er spricht nun von einer Integrationsgrenze von 200.000. Sie sind auch ein Freund davon. Warum?
Die Obergrenze hat quasi täglich dafür gesorgt, dass wir anders Politik gemacht haben. Wenn du dir als Politiker ein quantifiziertes Ziel setzt, setzt du dich auch selbst unter Druck.
Diese Obergrenze war ja nicht fix. Es gab keine Deckelung der Aufnahme. Es war eher ein unverbindliches Ziel.
Es wurde dann aber Richtschnur unseres Handelns und wir haben Politik so gemacht, dass wir an diese Grenze gar nicht erst herankamen. Wenn Sie eine Zielvereinbarung von 200.000 postulieren, gucken die Journalisten und die Opposition jeden Tag, ob die eingehalten wird, und dadurch ändert sich Politik. Dann setzen sich alle dafür ein, dass die Grenze eingehalten wird. Zwischen 2018 und 2020 fiel die Zahl der Asylbewerber von 185.000 auf 122.000. Dann kam der Regierungswechsel und jetzt erleben wir eine Politik ohne Ziele. Wir nehmen hemmungslos hin, was Schleuser uns ins Land bringen.
Eine wichtige Rolle spielte beim Rückgang der Zahlen das Migrationsabkommen zwischen der EU und der Türkei. Sie fordern weitere solcher Abkommen.
Ja. Das EU-Türkei-Abkommen hat das Modell der Schleuser komplett zerschlagen. Dieses Abkommen war für die alte Regierung ein Prototyp. Dieses Abkommen hätte es aber nie gegeben, wenn man die Verhandlung einem Beauftragten des Innenministeriums überlassen hätte.
Sie sprechen von Joachim Stamp, dem Beauftragten der Bundesregierung, der Migrationsabkommen verhandeln soll. Sie sagen, dass muss Chefsache sein.
Wie soll es denn anders gehen? Wie kann Erdogan mit Herrn Stamp verhandeln? Ich verstehe auch nicht, dass die Bundesaußenministerin in diesen Fragen überhaupt nicht stattfindet. Für die Verhandlungen muss man Geld, Angebote zu Bildung und Forschung oder zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit auf den Tisch legen können. Es geht auch um Visa oder um Entwicklungshilfe. So ein Abkommen kann ein Beauftragter des Innenministeriums allenfalls vorbereiten. Aber irgendwann muss der Kanzler persönlich ran.
Es gibt mittlerweile ein Abkommen der EU mit Tunesien.
Ja, aber ohne Wirkung.
Liegt das nur daran, dass falsch verhandelt wurde? Oder nicht auch daran, dass Präsident Kais Saied kein zuverlässiger Partner ist?
Wir haben es auf Chefebene ja nicht einmal versucht. Ich kenne zwei Verhandlungsmethoden. Man kann Angebote machen. Man kann aber auch Druck ausüben. Und davon habe ich noch gar nichts gemerkt. Sie können Visa-Politik auch ganz anders einsetzen. Wir sind ja nicht irgendwer. Von der Leyen, Macron und Scholz würden gemeinsam etwas hinbekommen. Davon bin ich restlos überzeugt. Auch ein teilweise unzuverlässiger Präsident ist einzufangen, wenn die richtigen Dinge auf dem Tisch liegen. Es reicht nicht, nur Geld zu zahlen, damit weniger Menschen kommen. Wir müssen natürlich auch neue legale Wege öffnen, für Arbeitskräfte, Studenten und andere. Am Ende muss eine Win-Win-Lösung stehen.
Sie fordern Grenzkontrollen, um die Migration zu begrenzen. Was versprechen Sie sich davon? Die Zahlen der Asylbewerber werden Sie so nicht herunterbringen. Jeder kann an der Grenze einen Asylantrag stellen und muss dann ein Verfahren bekommen.
Hat die Person eine Einreisesperre oder ein Aufenthaltsverbot, darf ich sie auf der Grenzlinie zurückweisen. Oder wenn sie schon in einem anderen Land einen Asylantrag gestellt hat oder einen Bescheid erhalten hat. Oder die Person stellt gar keinen Antrag und sagt wahrheitsgemäß, dass sie eigentlich nach England oder Frankreich will. So ehrlich sind manche, weil sie gar nicht damit rechnen, dass Deutschland die Migranten nicht wie die anderen Länder einfach durchleitet. Aber das machen wir nicht. An der deutsch-österreichischen Grenze haben wir ja seit längerem Grenzkontrollen. Dort hatten wir im vergangenen Jahr 14.600 Zurückweisungen.
Wenn ich von 200.000 Fällen ausgehe, sind 14.600 nur gut sieben Prozent.
Die Zahl würde steigen, wenn auch in Brandenburg und Sachsen kontrolliert würde. Es gibt noch einen Punkt. Es stellt sich die Frage, ob wir auch die auf der Grenzlinie zurückweisen, die aus einem sicheren Drittland kommen. Eigentlich muss Deutschland niemanden aus einem sicheren Drittland aufnehmen. Auf Polen oder Tschechien träfe das zu. Das Bundeskanzleramt hat die Rechtsauffassung, dass hier europäisches Recht deutsches Recht überlagert. Das europäische Recht sagt, dass der Asylanspruch überprüft werden muss. Das legen aber nicht alle Juristen so aus.
Also wäre Ihre Haltung gegenüber den Migranten: Polen ist sicher, also müsst ihr in Polen bleiben?
Ich will damit andeuten: Wenn es ganz schlimm kommt, könnte man diesen juristischen Streit noch führen. Wenn wir über Grenzkontrollen reden, dürfen Sie das politische Signal nicht unterschätzen: Deutschland spielt nicht mehr mit. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir ein politisches Stopp-Signal senden müssen, dass das so nicht weiter geht. Ich glaube, niemand in Europa will, dass Deutschland seine Grenzen kontrolliert. Aber damit das nicht passiert, müssen alle Europäer an den Verhandlungstisch und sich auf ein funktionierendes Schengensystem einigen.
Die Grenzkontrollen müsste Innenministerin Faeser bei der EU anmelden.
Es ist kurios, dass sie die Grenzkontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze alle sechs Monate verlängert, aber über die deutsch-polnische Grenze mittlerweile deutlich mehr Menschen kommen. Ich habe schon vor einem Jahr angesichts meiner Erfahrungen aus 2015 und 2016 zu Frau Faeser gesagt: Ich glaube, Sie merken nicht, dass Ihnen die gesellschaftliche Befriedung entgleiten könnte. Ich weiß nicht, ob Sie ahnen, was es bedeutet, wenn sie Ihnen entglitten ist. Was dann im Land los sein wird.
Wir haben nun viel darüber gesprochen, wie man die Migration begrenzen könnte. Aber müssen wir nicht so ehrlich sein zu sagen, dass der Migrationsdruck nicht aufhören wird? Dass uns das Problem so oder so begleiten wird? Und zwar langfristig?
Wir müssen uns fragen: Was können wir und was wollen wir? Wenn dann herauskommt, dass Europa jedes Jahr 500.000 Menschen aufnimmt und das nach Asyl und Fachkräften differenziert würde, dann reden wir ja schon über eine enorme Zahl von Menschen, die nach Europa kommen könnten. Denen, die sich aber einfach auf den Weg machen, müssen wir das klare Signal geben, dass sie keine Chance haben. Das wäre Humanität und Ordnung, abschotten wollen wir uns schließlich nicht. Das will nur die AfD.
Mit Armin Schuster sprach Volker Petersen