Einige Monate war rhetorisch etwas Ruhe, doch nun zieht Russlands Machthaber Wladimir Putin ein weiteres Register möglicher Nukleardrohungen - er will taktische Atomwaffen beim Nachbarn Belarus stationieren. "Unsere bekannten, sehr effektiven Iskander-Systeme wurden nach Belarus geschickt und können auch ein Träger sein", sagte Putin in einem Fernsehinterview am Wochenende. "Am 3. April werden wir mit der Ausbildung der Besatzung beginnen."
Die Bundesregierung bewertet Putins Ankündigung als "weiteren Versuch der nuklearen Einschüchterung" und als unverantwortliche Rhetorik. "Wir werden uns selbstverständlich in unserem Kurs, die Ukraine in ihrer Selbstverteidigung zu unterstützen, dadurch nicht beirren lassen", sagte eine Regierungssprecherin am Montag. Klare und vor allem gelassene Worte aus Berlin, für die es gute Gründe gibt. Warum Putins Schritt nicht bedeutungslos ist, aber auch kein Anlass für schlaflose Nächte - fünf Fragen und Antworten.
1) Wie will Putin den Westen mit seiner Entscheidung einschüchtern?
Seit den 90er Jahren hat Russland seine Atomwaffen nur noch auf eigenem Hoheitsgebiet stationiert. Mit Blick darauf ist Putins Entscheidung politisch ein deutlicher Schritt. Die frühere Sowjetunion hatte in Belarus, Kasachstan und der Ukraine Atomwaffen gelagert, die nach ihrem Zusammenbruch nach Russland gebracht wurden. Belarus schrieb dann sein Streben nach Neutralität und Atomwaffenfreiheit in der Verfassung fest.
Aber so eine Verfassung ist schnell umgetextet, wenn die Macht in einer Hand liegt. Der Minsker Staatschef Alexander Lukaschenko inszenierte bereits vor einem Jahr ein Schein-"Referendum" und ließ den Passus daraufhin streichen, in der Hoffnung, Putin werde seine Bitten um eine erneute Stationierung von Atomwaffen erhören und ihm selbst damit auch innenpolitisch den Rücken stärken. Nun passiert genau das. Ein Schritt mit markanter politischer Symbolik.
Darüber hinaus ist die Stationierung der Atomwaffen auch eine Möglichkeit für Putin, in seinen Drohgebärden einmal von der reinen Rhetorik hin zu einer tatsächlichen Handlung zu kommen. Begonnen hat der Kremlchef mit seinen Atomdrohungen schließlich schon vor über einem Jahr: Am 27. Februar 2022, drei Tage nach Kriegsbeginn, verbreitete Moskau die Mitteilung, Russland versetze seine "Abschreckungskräfte in Alarmbereitschaft" - unter diese Kategorie fallen auch Atomwaffen.
Seitdem wurde diese Karte von Putin, aber auch von anderen Kremlstimmen zwar immer wieder rhetorisch gespielt, konkret passierte jedoch nichts. Mit der Entscheidung, nun taktische Atomwaffen in Belarus zu stationieren, kann Putin seine Drohungen also mal "untermauern" - sichtbar nach innen und außen.
Innenpolitisch mag das gut funktionieren. Statt die ausbleibenden Erfolge der russischen Offensive erklären zu müssen, kann Putin im russischen Fernsehen wieder den Haudegen spielen, der den Westen anscheinend das Fürchten lehrt. Außenpolitisch ist der Effekt begrenzt. Harsch sind die westlichen Reaktionen: Als "unverantwortliche Eskalation und Bedrohung der europäischen Sicherheit", bezeichnet der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell die Stationierungspläne. Als "gefährlich und unverantwortlich" werden sie von der NATO kritisiert. Einen Anlass, die eigene Haltung anzupassen, sieht das Verteidigungsbündnis jedoch nicht.
2) Wie gefährlich sind Atomraketen in Belarus?
Für Kiew ist die Stationierung der Atomwaffen im Norden der Ukraine keine gute Nachricht, sie macht eine Bedrohungssituation - etwa für die nah an der Grenze zu Belarus liegende Hauptstadt Kiew - konkreter. Die Bedrohung selbst besteht aber bereits seit Beginn des Kriegs.
Russland verfügt über ein großes Arsenal von Atomwaffen unterschiedlicher Reichweiten und Sprengkraft und ist selbst Nachbar der Ukraine. Von wo aus genau der Kreml seine nukleare Rakete zündet, wäre darum im Ernstfall egal. Er könnte seine Ziele in der Ukraine ebenso gut von russischem Territorium aus erreichen wie auch von Belarus.
Für den Westen verändert die Stationierung von Atomwaffen in Belarus noch weniger. Denn bekannt ist, dass in der russischen Enklave Kaliningrad, zwischen Polen und Litauen an der Ostsee gelegen, bereits russische Atomwaffen stationiert sind. Die von Putin in seinem Fernsehauftritt explizit erwähnte Iskander-Rakete, die von Belarus aus Atomsprengköpfe in die Ukraine - aber theoretisch auch in andere Länder - tragen könnte, wird auch im Gebiet von Kaliningrad vorgehalten.
Geografisch liegt Kaliningrad noch etwas westlicher als Belarus und grenzt ebenso direkt an NATO-Staaten. Mit den dort stationierten Atomwaffen würden die Iskander-Raketen bis in die baltischen Staaten, aber auch nach Polen und bis nach Deutschland reichen. "Die Bedrohungssituation für die Ukraine und für uns ändert sich nicht", bilanziert der Sicherheitsexperte Nico Lange im Gespräch mit ntv.de. "Es scheint Putin eher um die Kontrolle über Belarus zu gehen dabei. Schon jetzt wird Belarus im Angriffskrieg gegen die Ukraine von Russland als Startgebiet für Marschflugkörper und Drohnen auch auf Kyjiw genutzt."
Ähnlich gelassen sehen auch internationale Expertinnen und Experten Putins Eskalationsversuch. Das US-Institute for the Study of War (ISW) misst der angekündigten Stationierung keine Bedeutung bei für das "Risiko einer Eskalation hin zu einem Nuklearkrieg, das extrem niedrig bleibt".
3) Wie lässt sich das Risiko eines russischen atomaren Angriffs einschätzen?
Wenn das ISW das Risiko als "extrem niedrig" erachtet, dann bedeutet das zweierlei: Erstens - die Gefahr besteht, man sollte sie nicht ignorieren oder bestreiten, aber: Es ist ein sehr niedriges Risiko. Erklären lässt sich das folgendermaßen: Die NATO-Länder ziehen Atomwaffen als Faktor auf dem Schlachtfeld eigentlich kaum mehr in Betracht. Sie nutzen strategische Atomwaffen, also solche mit sehr hoher Reichweite und sehr großer Sprengkraft, zur Abschreckung des Gegners. Die Zielsetzung ist, damit so effektiv abzuschrecken, dass sie niemals wirklich zum Einsatz kommen müssen. Auf dem Schlachtfeld fokussieren die NATO-Staaten sich aber auf konventionelle Kriegsführung und treiben dort die technologische Entwicklung voran.
Russland hat eine andere Haltung: Der Kreml nutzt ebenso wie der Westen strategische Atomwaffen zur Abschreckung, aber bezieht atomare Waffen durchaus auch noch immer als eine Option auf dem Schlachtfeld ein. Taktische Atomwaffen, also solche mit geringerer Reichweite und Sprengkraft, wären aus russischer Sicht eine valide Alternative, um Schwäche in der konventionellen Kriegsführung auszugleichen.
Genau mit diesem Problem jedoch hadert die russische Armee bereits seit Beginn ihrer Invasion in der Ukraine - mit der Schwäche ihrer Landstreitkräfte, die große Verluste an Mensch und Material haben. Und sollte der Ukraine in den nächsten Monaten dank der Ausstattung mit westlichen Panzern eine Gegenoffensive gelingen, dann könnte die Bilanz der russischen Bodentruppen noch deutlich schlechter ausfallen.
"Das heißt, wir müssen damit rechnen, dass Nuklearwaffen, diese taktischen Gefechtsfeldwaffen, in Zukunft eine noch größere Rolle spielen werden", sagte der Sicherheitsexperte Frank Sauer bereits Anfang März im ZDF, "einfach als Balance dazu, dass man konventionell schon so viel eingebüßt hat".
Es wäre also blauäugig, die vielfachen Drohungen des Kremls und die nun angekündigte Stationierung der Atomwaffen als reinen Bluff abzutun. Das Risiko eines nuklearen Angriffs besteht. Doch es bestehen auch Argumente, die für Wladimir Putin sehr konkret dagegen sprechen müssen, seine Drohungen tatsächlich wahr zu machen. Diese Tatsache findet sich als zweite Bedeutung in der Aussage des ISW, denn sie lassen das Risiko "extrem niedrig" erscheinen.
4) Was kann Putin vom Atomangriff abhalten?
Zum einen nutzt Putin das Drohpotential seit einem Jahr kontinuierlich, und die Reaktion etwa der bulgarischen Vizepräsidentin, die angesichts einer "immer gefährlicher und furchterregender" werdenden Lage zu Verhandlungen aufruft, zeigt, dass die eskalierende Rhetorik nicht ganz ohne Echo bleibt. Auch in Deutschland sind manche für Putins Rhetorik empfänglich, wird das nukleare Risiko immer wieder diskutiert. Von manchen wird es als Argument gebraucht, um für einen Stopp der Waffenlieferungen an die Ukraine zu plädieren. Eine Forderung, die hundert Prozent in Putins Sinne ist, ohne dass er dafür einen Finger rühren musste.
Auch die westliche "Boiling the frog"-Strategie, die Ukraine nicht von Anfang an mit den wirkungsstärksten Waffen zu unterstützen, sondern nur allmählich nach oben zu skalieren, ist Russlands nuklearen Fähigkeiten geschuldet. Eine Atommacht möchte man nicht sofort in die Ecke drängen, sondern langsam die Temperatur erhöhen - wie bei einem Frosch, der zu spät merkt, dass das Wasser immer heißer wird.
Bislang funktioniert die Strategie, doch die Ukraine zahlt dafür einen hohen Preis, denn sie ist nach den erfolgreichen Rückeroberungen im Herbst noch nicht wieder offensivfähig gewesen. Über Monate fehlten die schweren Waffen, vor allem Kampf- und Schützenpanzer, ohne die eine Offensive nicht erfolgreich ist. Putin hat also zum einen gleich in mehrfacher Hinsicht einen Nutzen davon, die Drohkulisse zu erhalten, ohne wirklich atomar zu eskalieren.
Zum anderen zeigten die USA von Beginn an eine sehr klare Haltung auf Putins Drohungen bezogen. Jake Sullivan, Sicherheitsberater des US-Präsidenten, warnte schon im vergangenen Herbst öffentlich vor "katastrophalen Konsequenzen", falls Putin tatsächlich Nuklearwaffen einsetzen sollte. Nicht öffentlich wird Washington gegenüber dem Kreml diese Folgen sehr viel konkreter ausbuchstabiert haben.
Schon mit den redundanten Drohungen, womöglich atomar zu eskalieren, bricht Putin ein zentrales Tabu der Internationalen Gemeinschaft. Der Westen beschränkt sich darauf, es verbal zu kontern. Käme nun jedoch der Tabubruch eines tatsächlichen nuklearen Angriffs, dann würde dieser Schritt geopolitisch eine immense Erschütterung auslösen. Als Antwort darauf würden Sicherheitsexperten einen massiven US-Schlag mit konventionellen Waffen erwarten.
Und auch jenseits des Westens müsste Russland Konsequenzen fürchten. Chinas Diktator Xi Jinping hat mehrfach in den vergangenen Monaten davor gewarnt, im Ukraine-Krieg Atomwaffen einzusetzen. "Der Einsatz von nuklearen Waffen oder die Drohung damit muss abgelehnt werden", wurde Xi Jinping im vergangenen Herbst zitiert. Die enorm wichtige Partnerschaft mit Peking würde Putin durch einen Atomschlag aufs Spiel setzen.
5) Greift Putin bei der Stationierung in Belarus zum selben Mittel wie die NATO?
Aus der Argumentation Wladimir Putins heraus bricht der Kreml mit der Stationierung der Atomwaffen in Belarus keine Internationalen Verträge. Doch solche Erklärungen geraten zur Farce angesichts des bisherigen Verhaltens des Kreml. "Gegen das Budapester Memorandum verstößt Russland bereits seit dem ersten militärischen Eingreifen in der Ukraine 2014", sagt Nico Lange. Im Memorandum sicherten Russland, die USA und Großbritannien der Ukraine zu, ihre territorialen Grenzen zu respektieren. Darüber hinaus bricht der Kreml seit 2014 kontinuierlich das Völkerrecht.
Erst in der vergangenen Woche bekräftigte Putin gemeinsam mit Xi Jinping, Atomwaffen sollten nicht an Drittstaaten abgegeben werden. Doch das tue er auch nicht, erklärte der russische Machthaber wenige Tage darauf im Staatsfernsehen. Laut Putins Darstellung will er die Kernwaffen nicht an Belarus "abgeben", sondern sie dort stationieren und die Kontrolle über ihren Einsatz selbst behalten. Russland tue lediglich, was die NATO "schon seit Jahrzehnten" mache, so Putin.
Damit spielt er auf die sogenannte "Nukleare Teilhabe" an, die Stationierung amerikanischer Atombomben auf europäischem Boden - in Deutschland zum Beispiel lagern mehrere Dutzend seit Mitte der 1950er Jahre im rheinland-pfälzischen Fliegerhorst Büchel.
Auch diese Atomwaffen sind nie in deutsche Hände übergeben worden, sondern es würde einer Aufforderung der US-Regierung bedürfen, um sie zum Einsatz bringen zu können. Die Bundesregierung könnte das nicht selbst entscheiden. Rein formell betrachtet gibt es hier also Parallelen zur jetzigen Stationierung von Atomwaffen Russlands im Nachbarland.
Alle übrigen Faktoren unterscheiden sich jedoch sehr deutlich. Zum einen hätten die Atombomben, getragen von einem Tornado der Bundeswehr, nie russisches Gebiet erreichen können. Sie waren immer nur als Abschreckung auf Polen und andere Staaten gerichtet, die damals zum Warschauer Pakt gehörten und näher an Deutschland lagen als Russland.
Inzwischen sind die Staaten, über denen ein deutscher Kampfjet theoretisch eine Atombombe abwerfen könnte, NATO-Partner. Die Abschreckungsfunktion besteht also in diesem Sinne nicht mehr, denn Partner muss man nicht abschrecken und den potentiellen Gegner Russland kann man nicht erreichen. Solange die Bundeswehr ihre Tornados noch nicht durch moderne Tarnkappen-Jets des Typs F-35 ersetzt hat, wird Russland durch Deutschlands Nukleare Teilhabe nicht bedroht.
Zum zweiten handelt es sich bei den Atomwaffen, die Gegenstand der Nuklearen Teilhabe sind, um Bomben, die anders als ballistische Raketen nicht selbstständig ihr Ziel anfliegen können, sondern über dem anvisierten Ziel abgeworfen werden müssen. Eine Iskander- oder eine russische Hyperschall-Rakete Kinzhal mit Atomsprengkopf bestückt wäre den Fähigkeiten der Nuklearen Teilhabe weit überlegen.
Der dritte gravierende Unterschied besteht in der Einbettung der Stationierung. Während die Atombomben in Deutschland und anderen europäischen Ländern bereits seit Jahrzehnten lagern, ohne dass das jemals zum Thema internationaler Beziehungen geworden wäre, droht Wladimir Putin seit einem Jahr sehr regelmäßig mit den atomaren Fähigkeiten Russlands und hat außerdem seinen Nachbarstaat überfallen. Die Entscheidung des Aggressors Russland, Atomwaffen in Belarus zu stationieren, muss darum als ein weiterer Eskalationsversuch in einem laufenden Krieg verstanden werden. Eine solche Wirkung und ein solches Ziel hat die Nukleare Teilhabe in den knapp 70 Jahren ihres Bestehens nie gehabt.