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Tatanchamun und das Alte Ägypten: "Das Gold ist schön, aber der Inhalt zählt"

Die goldene Totenmaske von Tutanchamun, royale Haushaltsgegenstände, Hieroglyphen: Das Alte Ägypten fasziniert bis heute. Warum das so ist, welche Artefakte die wertvollsten sind und was einen Steinbockkopf zu ihrem Lieblingsexponat macht, erklärt Dr. Olivia Zorn, stellvertretende Direktorin des Ägyptischen Museum in Berlin, im Gespräch mit ntv.de.

ntv.de: Vor genau 100 Jahren, am 26. November 1922, öffnete Howard Carter im Tal der Könige das Grab von Tutanchamun. War der britische Ägyptologe eher ein Abenteurer oder ein Wissenschaftler?

Olivia Zorn: Eher ein Wissenschaftler. Natürlich wollte er ein Grab finden und war fasziniert von dem Inhalt des Grabes, aber es ging ihm auch darum, die einzelnen Objekte zu dokumentieren, sie richtig einzuordnen. Er hat sehr eindringlich versucht, das Ganze zusammenzuhalten und zu erforschen, bevor es an die Öffentlichkeit kommt.

Was sehen wir heute anders als Carter, wie hat sich unser Ägyptenbild verändert?

Damals war es das erste Grab, das vollständig erhalten war und man hat plötzlich gemerkt, dass Pharaonengräber sehr opulent bestückt sind. Das ganze Material, das man in einem Königsgrab finden kann, hat die Einschätzung, wie bedeutend Pharaonen waren, verändert. Das Ägyptenbild ist heute immer noch ähnlich. Aber wir sind natürlich in der Forschung deutlich weiter und können auch viel mehr belegen und haben manches Mystische auf einen realen Boden heruntergeholt.

Damals hat man das Alte Ägypten wahrscheinlich eher als patriarchal organisierte Hochkultur verstanden, heute wird auch Nofretete Bedeutung beigemessen. Was hat sich da verändert?

Man muss ehrlicherweise sagen, dass jede Generation mit ihrer eigenen Brille auf die Historie blickt. Ein Beispiel: Es gibt diese Gruppenstatuen, die Mann und Frau zeigen und die Frau legt immer den Arm um den Mann. Die frühere Interpretation war ganz klar: Die Frau ordnet sich dem Mann unter, ist auch immer ein bisschen kleiner dargestellt. Das neue Frauenbild interpretiert das anders: Die Frau ist die Aktive, weil sie den Arm um den Mann legt, sie hat die Hosen an. Ich kann ein und dieselbe Statue unterschiedlich interpretieren, ohne dass ich einen hundertprozentigen Beweis dafür habe. Aus der späteren Zeit gibt es schriftliche Privatdokumente von Eheverträgen und Scheidungsurkunden. Daraus geht ganz klar hervor, dass es Gütertrennung gab und dass eine Scheidung auch auf Betreiben der Frau ausgelöst werden konnte. Wir wissen auch aus sehr frühen Dokumenten, dass Frauen Besitz haben konnten und Berufe ausgeübt haben.

Wenn man an das Grab und die Grabbeigaben von Tutanchamun denkt, hat man sofort ganz viel Gold vor Augen. Sind diese Funde aber wirklich die wichtigen oder sind andere aus wissenschaftlicher Sicht viel wertvoller?

Die Inschriften und Dekorationen sind das Wertvolle für die Wissenschaft. Das Gold ist schön, aber vor allen Dingen zählt der Inhalt.

Können Sie dafür ein Beispiel nennen?

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Eine Nachbildung der Grabkammer, wie Howard Carter sie vorgefunden hat.

(Foto: picture alliance / dpa)

Man kennt ja häufig nur die Totenmaske, aber es waren ganz viele Gegenstände eines royalen Haushalts da, das fasziniert natürlich. Man merkte, dass es tatsächlich eine Person ist, die dahintersteht, die das auch gebraucht hat. So wie heute die Royals ihr entsprechendes Equipment haben. Offenbar brauchte Tutanchamun seinen Fächer, seinen Bogen, die vielen Kistchen und Spiele. Das ist einfach schön und sehr lebendig.

Viele Ägypten-Ausstellungen verzeichnen Besucherrekorde, zum Beispiel die Tutanchamun-Schau in Paris 2019. Was fasziniert uns heute so sehr am Alten Ägypten?

Es spielt sehr viel zusammen. Das alte Ägypten ist uns sehr nah, die ägyptischen Wurzeln sind auch europäische Wurzeln. Unser christlicher und religiöser Hintergrund fußt teilweise auf Gedankengut von Altägypten. Und natürlich macht auch das Material der Artefakte etwas aus, es sind immer hochwertige Materialien. Aber es ist auch das Mystische, die Hieroglyphen - sind es Bilder, sind es Schriftzeichen, was kann ich daraus entnehmen? Und es ist noch nicht jedes Rätsel gelöst. Es gibt noch Gräber, die gefunden werden wollen.

Gibt es bei ägyptischen Artefakten ein Problem mit Raubkunst?

Bei uns im Museum nicht, weil alle unsere Objekte unter den damals herrschenden legalen Vertragsbedingungen zu uns gekommen sind. Natürlich kann man darüber sprechen, wie sinnvoll es wäre, bestimmte Dinge in das Land zurückzugeben. Wenn man zum Beispiel an Grabwände denkt, wo Teile herausgenommen wurden und jetzt eine Lücke klafft. Natürlich ist jedes Objekt irgendwo geschaffen worden, aber unsere Welt hat sich verändert. Und auch wir müssen uns in unserem Denken verändern. Und es ist ja schön im Sinne unserer Multikulti-Welt, dass Objekte aus unterschiedlichen Kulturen an anderen Orten gezeigt werden.

Wie entwickelt sich die Zusammenarbeit mit Ägypten? Dort gibt es ja inzwischen eine starke Lobby für die Altertümer und auch für deren Rückgabe.

Wir haben auf wissenschaftlicher Ebene eine sehr gute Beziehung. Wir hatten letztens wieder Gäste aus Ägypten, junge Wissenschaftler aus der Ägyptologie, der Papyrologie und der Restaurierung - und die Rückgabe der Nofretete war kein Thema. Wir ziehen alle an einem Strang, wir wollen alle die Kultur erhalten, wir wollen mehr über diese Kultur erfahren und es ist ein sehr offener Austausch.

Sie sind seit sieben Jahren stellvertretende Direktorin des Ägyptischen Museums. Haben Sie in Ihrem Bestand ein Lieblingsexponat?

Besonders fasziniert mich ein bronzener Steinbockkopf, der aus der Spätzeit stammt und auch die Bezüge zum Vorderen Orient symbolisiert. Denn der Steinbock an sich war kein heiliges Tier im Alten Ägypten, sondern wurde als Wildtier gejagt. Dieser Steinbockkopf mit Goldeinlagen ist etwas ganz Besonderes, es gibt auch kein zweites Objekt vergleichbarer Art und man vermutet, dass es am Bug einer Götterbarke befestigt war. Auch das ist sehr ungewöhnlich, weil dort normalerweise andere Tiere zu finden sind. Aber es gibt Beispiele solcher Götterbarken auch aus dem Grab des Tutanchamun, wo man tatsächlich einen Steinbockkopf an der Alabasterbarke findet. Allerdings ist dieser Steinbockkopf deutlich jünger als der von Tutanchamuns Schiff.

Wo wurde er gefunden?

Das wissen wir leider nicht. Deswegen ist es ein wenig mysteriös, es gibt verschiedene Theorien, dass er vielleicht ein Importstück aus dem Vorderen Orient ist oder eben in Ägypten selber aber nach orientalischem Vorbild gefertigt wurde.

Mit Dr. Olivia Zorn sprach Katja Sembritzki