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Thomas Jäger im Interview: "Russland braucht keine Sicherheitsgarantien"

Solange Russland den Anspruch hat, Europa zu beherrschen, gibt es nur Sicherheit vor Russland und keine Sicherheit mit Russland, sagt der Politikwissenschaftler Thomas Jäger. Die Forderung nach Sicherheitsgarantien für Russland hält er für abwegig. "Eine Macht, die eine nukleare Zweitschlagskapazität hat, wird nicht bedroht. Deswegen bedroht auch niemand die USA."

ntv.de: US-Außenminister Blinken geht davon aus, dass Russland einen Schein-Waffenstillstand anstreben wird, weil es militärisch derzeit nicht vorankommt - nur um später erneut anzugreifen. Wie kann die Ukraine erkennen, ob Russland an ernsthaften Verhandlungen interessiert ist?

Thomas Jäger: Wenn es die Annexionen aufgibt. Das ist der zentrale Punkt, an dem letztlich alles bricht. Russland hat ukrainisches Territorium zur russischem erklärt. Die Ukraine besteht darauf, dass dieses Territorium ukrainisch bleibt. Wenn über dieses Gebiet verhandelt werden soll, müssten die russischen Streitkräfte es freigeben.

Sind keine Verhandlungen denkbar, bei denen die Frontlinie zunächst eingefroren wird?

Momentan würde das im russischen Interesse liegen. Dann hätte Russland zwar nicht die gesamte Ukraine erobert, aber doch eine Landbrücke zur Krim geschlagen. Russland würde dann versuchen, dieses Gebiet politisch zu stabilisieren und sich endgültig einzuverleiben. Aus meiner Sicht ist nicht vorstellbar, dass die Ukraine sich auf solche Bedingungen einlässt.

Der französische Präsident Macron hat unlängst darüber gesprochen, dass auch der Westen Russland "Sicherheitsgarantien" geben müsse, wenn Moskau "eines Tages wieder an den Verhandlungstisch kommt". Was für Sicherheitsgarantien könnten das sein?

Aus europäischer Sicht geht es momentan nicht um Sicherheitsgarantien für Russland, sondern um Sicherheitsgarantien vor Russland. Russland braucht auch keine Sicherheitsgarantien, aus dem einfachen Grund, weil niemand Russland bedroht. Macron hat einen russischen Begriff aufgegriffen. "Sicherheitsgarantien" setzt ja voraus, dass Russland bedroht wird.

Macron sagte, für Putin sei ein wichtiger Punkt die "Angst, dass die NATO vor seiner Haustür steht, und dass Waffen stationiert werden, welche die Sicherheit Russlands bedrohen".

Dass Russland durch Waffen bedroht wird, ist doch überhaupt nicht zu sehen. Eine Macht, die eine nukleare Zweitschlagskapazität hat, wird nicht bedroht. Deswegen bedroht auch niemand die USA. Diese Mächte können militärisch auf eigenem Territorium nicht besiegt werden. Mit der NATO-Russland-Grundakte von 1997 wurde festgelegt, dass die NATO in Osteuropa keine permanente militärische Infrastruktur unterhalten darf. Die NATO hat sich bis 2014 daran gehalten, bis zur Annexion der Krim und dem Donbass-Krieg. Sicherheitsgarantien hat Russland weder vorher noch hinterher gebraucht.

Es gibt Politiker und Politologen in Deutschland, die Sicherheitsgarantien für Russland als legitim erachten. Reden die alle Russland nach dem Mund?

Sie benutzen jedenfalls russische Narrative. Warum sie das jeweils machen, hat wahrscheinlich ganz unterschiedliche Gründe. Es entspricht aber dem russischen Narrativ, das aus dem tatsächlichen Aggressor ein bedrohtes Land macht. Wer sagt, Russland brauche Sicherheitsgarantien, der geht davon aus, dass die NATO Russland bedroht. In dieser Logik verteidigt Russland sich nur. Das ist genau das, was die russische Propaganda suggerieren will: In diesem Narrativ führt die Ukraine keinen Verteidigungskampf gegen Russland, sondern Russland gegen die NATO.

Sie haben gesagt, jetzt gehe es um Sicherheitsgarantien vor Russland. Die klassische bundesdeutsche Außenpolitik strebte jahrzehntelang - und träumt zum Teil noch immer davon - eine europäische Friedensordnung unter Einschluss Russlands an. Ist das realistisch?

Eine europäische Friedensordnung mit Russland setzt voraus, dass in Russland diese nationalistische und imperialistische Gewaltbereitschaft verschwindet. Russland muss seinen Anspruch auf politische Dominanz in Europa aufgeben. Dann kann Russland in eine europäische Sicherheitsordnung integriert werden - so wie auch Frankreich und Deutschland mal den Anspruch hatten, Europa zu beherrschen. Beides sind, bei allen Unterschieden, Nationen mit einer imperialistischen Vergangenheit. Wer mit einer solchen Vergangenheit nicht bricht, kann nicht Teil der europäischen Friedensordnung sein. Solange Russland den Anspruch hat, Europa zu beherrschen, gibt es nur Sicherheit vor Russland und keine Sicherheit mit Russland.

Die Ukraine wird, wenn es zu Verhandlungen mit Russland kommen sollte, ebenfalls Sicherheitsgarantien fordern. Wie könnten die aussehen?

Das ist der zweite Punkt, an dem Verhandlungen bisher nicht weiterkommen. Den ersten haben wir schon genannt: Wem gehört das Territorium? Der zweite ist: Wer sichert die Souveränität der Ukraine? Die Sicherheit der Ukraine kann nur sichern, wer bereit ist, Krieg gegen Russland zu führen. Das ist kein Staat der Welt, weil Russland Nuklearmacht ist. Sicherheit für die Ukraine gibt es nur, wenn sie in die nukleare Abschreckung gegen Russland einbezogen wird.

Vertraglich geregelte Sicherheitsgarantien würden nicht reichen?

Das Budapester Memorandum ist gerade 28 Jahre alt geworden. Darin hatte Russland unter anderem die territoriale Integrität der Ukraine garantiert, im Gegenzug für den Verzicht der Ukraine auf alle Nuklearwaffen aus Sowjetzeiten. An diesen Vertrag hat sie sich nicht gehalten. Warum sollte Russland sich an künftige Abkommen über die Sicherheit seiner Nachbarn halten?

Dann bleibt den Ukrainer nur die Hoffnung auf NATO-Mitgliedschaft, wenn sie in einem sicheren Umfeld leben möchten?

Ja. Wenn die Ukraine 2008 in die NATO eingetreten wäre, gäbe es diesen Krieg nicht.

Dazu sagt Angela Merkel, sinngemäß: Wenn die NATO der Ukraine die Mitgliedschaft damals angeboten hätte, hätte Russland das Land schon 2008 überfallen.

Merkel hat auch gesagt, dass sie wusste, wie Putin denkt. Und trotzdem hat sie seit 2008 die Abhängigkeit von russischen Energielieferungen noch vergrößert, trotzdem hat sie die Bundeswehr weiter vor sich hindümpeln lassen.

Bundeskanzler Scholz hat in einem Artikel in der Zeitschrift "Foreign Affairs" angekündigt, Deutschland wolle "einer der Hauptgaranten für die Sicherheit in Europa Verantwortung übernehmen". Ist das glaubwürdig?

Nein. Die EU ist der einzige internationale Akteur, der zwar in der Weltpolitik mitspielen möchte, sich selbst aber nicht verteidigen kann. Die europäische Sicherheitsordnung wird nicht von der EU garantiert, das machen seit 1945 die USA. Scholz hat ja auch schon mal erklärt, Deutschland sei bereit, sich an Sicherheitsgarantien für die Ukraine zu beteiligen. Wie das funktionieren soll, blieb völlig wolkig. Ähnlich sieht es mit seiner aktuellen Ankündigung aus. Wenn man sich die Realität anschaut, dann hat die Bundeswehr Munition für zwei Tage. In neun Monaten ist es der Verteidigungsministerin nicht gelungen, Bestellungen auszulösen. Das ist die sicherheitspolitische Realität momentan in Deutschland.

Mit Thomas Jäger sprach Hubertus Volmer