CDU-Chef Friedrich Merz tappt immer wieder in die gleiche Falle: Er überzieht mit seiner Rhetorik statt die Aufmerksamkeit auf den zu lenken, der so offensichtlich immer abtaucht, wenn er eigentlich gefordert wäre – den Bundeskanzler
Man möchte Friedrich Merz am Ende dieser Woche einen Tipp geben: Das wahre Problem des Flüchtlingszustroms nach Deutschland findet er nicht in den vollen Wartezimmern deutscher Zahnarztpraxen, sondern auf den weiten stillen Fluren des Bundeskanzleramts. Genau dort sprach der Bundeskanzler in dieser Woche nämlich ein Machtwort: Kein Widerstand mehr gegen schärfere Asylregeln in der EU, das soll Olaf Scholz seinen Ministern aufgetragen haben. So hieß es zumindest nach der Kabinettsitzung am Mittwoch, wenn auch nur dem Hörensagen nach, oder wie man in Berlin so sagt: laut Regierungskreisen.
Ein typischer Scholz halt.
Denn so richtig gehört hat man das Machtwort des Kanzlers nicht. Keine Erklärung, keine Begründung, nichts. Zwar stimmte Deutschland am Donnerstag tatsächlich der Reform in Brüssel zu, statt dort den Prozess weiter aufzuhalten. Doch beschlossen ist noch nichts. Und die Debatte über den Zustrom, die Verteilung und Versorgung von Flüchtlingen und Asylbewerbern in Deutschland bestimmte nicht der Kanzler mit seinem Machtwort, sondern eben Friedrich Merz. Über abgelehnte Asylbewerber sagte Merz am Mittwochabend beim TV-Sender „Welt“: „Die sitzen beim Arzt und lassen sich die Zähne neu machen – und die deutschen Bürger nebendran kriegen keine Termine.“
Merz’ Satz war wahr und ungeschickt zugleich
Da war was los. Dutzende Redakteure in Berlin suchten noch am selben Abend die Vorschriften in den einschlägigen Gesetzen heraus und überschlugen sich mit „Faktenchecks“ – wahrscheinlich ging es in der Pressestelle der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung tags darauf turbulenter zu als in einem bayerischen Bierzelt.

Zum Höhepunkt der Haushaltswoche haben sich Kanzler Scholz und Oppositionsführer Merz in der Generaldebatte ein heftiges Wortgefecht geliefert. Die fünf Schlüsselmomente aus ihrer Redeschlacht.
Merz’ Satz war wahr und ungeschickt zugleich: Wahr, weil abgelehnte Asylbewerber, die aus welchen Gründen auch immer nicht abgeschoben werden, nach 18 Monaten in Deutschland tatsächlich Anspruch auf alle regulären Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen haben. Und davon gab es Ende letzten Jahres etwa 300.000 Menschen in Deutschland. Zudem gehören zu diesen Leistungen auch Zahnersatz, allerdings, und das ist wichtig, inklusive der üblichen Zuzahlungen, die sich wiederum kaum ein Ausländer ohne Job und nur mit Duldungsstatus wird leisten können. Weshalb der Präsident der Zahnärzte, Christoph Benz, Merz umgehend widersprach, niemand müsse wegen Asylbewerbern auf einen Termin warten – dafür gebe es leider viele andere Gründe.
Unfassbar ungeschickt war der Satz, weil es Merz mit seiner überdrehten Rhetorik schaffte, sich und seine Partei ein weiteres Mal quasi Schulter an Schulter mit jener AfD zu positionieren, von der ihn doch eigentlich eine Brandmauer trennen soll. Dass die Mitarbeiter seiner eigenen Bundestagsfraktion den Satz anschließend zunächst aus einem Videomitschnitt der „Welt“-Sendung tilgten, den sie dann in den sozialen Medien verbreiteten, machte die Peinlichkeit nur noch größer.
Vielleicht ist es eine besonders perfide Taktik des Kanzlers, der sich selbst bekanntermaßen für sehr, sehr schlau hält, dass er sich immer so auffällig aus allem heraushält. Quasi der horror vacui als Machtkalkül: Scholz’ Gegner, also allen voran Friedrich Merz, sollen sich herausgefordert fühlen, das Vakuum zu füllen, das der Kanzler durch demonstrative Abwesenheit hinterlässt – und sich in ihrem Übereifer dann immer wieder selbst in die Nesseln setzen. Wenn es so sein sollte, hätte Olaf Scholz mit Friedrich Merz ein bereitwilliges Opfer gefunden.
Im Ergebnis sprach am Ende fast niemand über Scholz – viele hingegen über abgelehnte Asylbewerber, und noch mehr über die Fähigkeiten des CDU-Vorsitzenden. Den besten Sinn für Timing bewiesen dafür in dieser Woche übrigens die Kollegen der „FAZ“. Sie fragten in einer ganzseitigen Analyse, gespeist aus zahllosen CDU-Quellen, am Donnerstagmorgen: „Ist Merz der Richtige?“ Der Text war lange vor Merz’ Auftritt bei „Welt“ entstanden.
Scholz duckt sich immer wieder weg
Das politische Problem in der Asyl- und Flüchtlingsdebatte, die die Stimmung im Land mehr und mehr aufheizt und vergiftet, ist nicht ein mäandernder CDU-Chef (das ist ein internes Problem der Union), sondern ein Kanzler, der immer wieder abtaucht und sich wegduckt. Sein Schweigen und Abwarten schaffen erst jenen Freiraum, in dem schrille Parolen Macht und Anziehungskraft entfalten: So verbreitet sich das Gefühl, dass sich niemand kümmert, dass nichts passiert und vorangeht, abgesehen von ein paar Showveranstaltungen in Berlin: Wohnungsgipfel, Luftfahrtgipfel, Wirtschaftsgipfel, Chemiegipfel, Solargipfel, Wärmepumpengipfel, demnächst vielleicht auch mal ein Flüchtlingsgipfel.

Mit Carsten Linnemann stehe nun an der Parteispitze ein zweiter Merz – konservativ, wirtschaftsliberal und stets ein bisschen zu aggressiv. Was viele als Risiko sehen, kann auch eine Chance sein
Das verhängnisvolle Wechselspiel aus demonstrativem Phlegma und schriller Aufregung begegnet einem inzwischen überall, wo es um Geld, Jobs und Umsetzungsdefizite geht.
Auf der Sachebene nämlich, da hat Merz ja Recht, sind die Probleme mit den vielen Flüchtlingen ganz konkret: Den Kommunen fehlt das Geld für eine ordentliche Unterbringung, und statt sie weiter zu unterstützen, plant der Bund, die Mittel im kommenden Jahr kräftig zu kürzen – obwohl die Zahl der Geflüchteten ja offensichtlich steigt. Die Behörden in Ländern und Kommunen sind überfordert, die Vorschriften in Deutschland viel zu kompliziert. Am besten lässt sich das an einer Gruppe zeigen, die in der Debatte zwar selten offen angesprochen, aber immer mitgemeint wird, wenn über Flüchtlinge gesprochen wird: die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine.
Der Berliner Politikwissenschaftler Dietrich Thränhardt hat die nationalen Arbeitsmarktstatistiken der EU-Staaten ausgewertet und ist zu einem ernüchternden Ergebnis gekommen: In Dänemark hatten 74 Prozent aller aufgenommenen Ukrainerinnen und Ukrainer im August einen bezahlten Job, in Polen und Tschechien etwa zwei Drittel. In den Niederlanden, Großbritannien und Irland immerhin noch gut die Hälfte. In Deutschland dagegen nur 18 Prozent. Während man hierzulande über die Kosten für die Menschen streite, werde der polnische Staat in diesem Jahr wahrscheinlich mehr Geld aus Steuern der ukrainischen Flüchtlinge einnehmen, als er umgekehrt zu deren Unterstützung ausgeben müsse, so der Wissenschaftler.
Die Integration in den Arbeitsmarkt gelingt zu selten
Warum das so ist? Thränhardt kommt zu einem einfachen Ergebnis: Alle Staaten, in denen ukrainische Flüchtlinge heute mehrheitlich einen Job haben, haben extrem einfache Verwaltungsabläufe geschaffen, ihnen die sofortige Arbeitsaufnahme erlaubt und auch die Selbstständigkeit erleichtert. Die Länder, die die meisten Ukrainer aufgenommen haben, allen voran Polen, bieten zudem deutlich niedrigere Sozialleistungen und niedrigere Löhne. „Das spricht gegen die These von den Sozialleistungen als Hauptanziehungsmoment und eher für die Aktivität der Flüchtlinge“, resümiert Thränhardt. Umgekehrt kennt wahrscheinlich jeder inzwischen Berichte von ukrainischen Flüchtlingen, die Deutschland lieber Richtung Polen, Irland oder Großbritannien verlassen, weil sie dort leichter Arbeit finden.
Es ist ein Muster, dass sich in der Flüchtlingsdebatte immer wieder zeigt: Selbst bei den Menschen, die unzweifelhaft in Deutschland bleiben können sollen, gelingt die Integration in den Arbeitsmarkt nur schwer. Weil komplizierte Verwaltungsvorschriften dies verunmöglichen – etwa die Aufnahme einer Arbeit oder Ausbildung, wenn Asylbewerber in einer Aufnahmeeinrichtung wohnen. Wozu sie in den ersten neun Monaten nach der Asyl-Antragsstellung wiederum verpflichtet sind. Dabei wären ein Job und ein eigenes Einkommen die besten Argumente gegen schlichte Parolen. Hier hätte ein Oppositionschef wie Friedrich Merz mannigfaltige Möglichkeiten, einen Kanzler aus seiner Lethargie zu reißen.
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