Germany
This article was added by the user . TheWorldNews is not responsible for the content of the platform.

Ukraine-Krieg | Stadt der Kollaborateure: "Wollten uns zu Russen umerziehen"

Kupjansk in der Ostukraine lieferte sich den Russen kampflos aus. Nun sind sie weg und die Stadt ist gespalten: Sind die Kollaborateure Verräter oder hatten sie keine andere Wahl?

Ihor Prasolow zeigt durch das Fenster im ersten Stock des Gymnasiums von Kupjansk. Genau hier, sagt er, habe er am Morgen des 24. Februar gestanden. Prasolow sah die ukrainischen Panzer nach Norden rollen, in Richtung Russland. 20 Stück. Er hat sie genau gezählt.

Am Abend kamen sie auf derselben Straße zurück und verließen die Stadt – diesmal in Richtung Westen. "Sie hatten nicht mal gekämpft." Da wusste Prasolow, 56 Jahre alt, Sportlehrer am einzigen Gymnasium von Kupjansk: "Die Stadt ist verloren."

Prasolow sollte recht behalten: Am 27. Februar, drei Tage nach Kriegsbeginn, trat der damalige Bürgermeister der ostukrainischen Stadt vor die Kamera. Via Livestream verkündete er den rund 30.000 Bürgern, dass ihm die russische Armee ein Ultimatum gestellt habe: Entweder gebe er die Stadt kampflos auf oder sie werde überrannt.

Hennadyj Matsehora entschied sich für die Kapitulation. Er sei überzeugt, dass dadurch "das Leben in der Stadt in keiner Weise beeinträchtigt" werde, sagte der Bürgermeister in seiner Videobotschaft. Matsehora und die Mächtigen der Stadt empfingen die russischen Eindringlinge daraufhin sogar mit einer offiziellen Delegation.

In der strategisch wichtigen Kleinstadt im Gebiet Charkiw fiel tatsächlich kein einziger Schuss, niemand starb, als die Besatzer die Stadt übernahmen.

Für viele Ukrainer ist Matsehora seitdem der Inbegriff eines Kollaborateurs, ein Feigling, der, statt zu kämpfen, den Invasoren dabei half, ihr brutales Besatzungsregime zu errichten. Doch er war nicht allein: Ein Teil der Kupjansker arrangierte sich schon bald mit der neuen Realität. Auch wenn es anfangs mutige Proteste gegen die Besatzer gab, weichten diese bald einer stillen Akzeptanz.

Bis zu dem Tag, da die Russen abzogen und Kupjansk wieder ukrainisch wurde. Seitdem ist die Stadt gespalten: Bürger, die mit den Russen kooperierten, stehen denen, die sie bekämpften, gegenüber. Auf den Straßen herrscht Misstrauen. Und auch viele andere Ukrainer schauen voller Zweifel auf die Stadt, die in ihren Augen mit dem Feind paktiert hat.

Es ist ein klassisches Dilemma in Zeiten des Krieges: Ergibt man sich kampflos und arrangiert sich mit den Besatzern, verliert man die Freiheit, aber rettet womöglich Hunderte Leben. Kämpft man stattdessen für die Freiheit, weiß man, dass es Tote geben wird. Egal, wie die Entscheidung ausfällt – sie wird alles danach überschatten. Nirgendwo zeigt sich das gerade so sehr wie in Kupjansk.

Für Andrij Besedin ist Matsehora ein Verräter. Kubjansks neuer Bürgermeister hat für seinen Vorgänger keine Sympathie: "Er lief über zum Feind und unterstützte die russischen Invasoren, wo er nur konnte." Damit habe er allein über das Schicksal einer ganzen Stadt entschieden.

Doch nicht alle in Kupjansk haben eine so eindeutige Meinung. Auf den Straßen verurteilen viele Menschen zwar Matsehoras Entscheidung, sagen aber auch, dass er kaum eine Wahl hatte. Damals kreisten russische Kampfjets über der Stadt, während sich russische Panzerverbände vom Norden her näherten.

Tatsächlich schien die ukrainische Armee die Verteidigung der Stadt aufgegeben zu haben und ihre Kräfte weiter westlich zu konzentrieren. Denn die Trophäe des ukrainischen Nordostens hieß nicht Kupjansk, sondern Charkiw. Weil die Millionenstadt Ende Februar zu fallen drohte, sah sich die ukrainische Militärführung gezwungen zu priorisieren – und Kupjansk sich selbst zu überlassen.