Die Top-Ökonomen Veronika Grimm und Tom Krebs besprechen die drängendsten Probleme Deutschlands – und streiten darüber, wie sie sich lösen lassen. Es geht um Eingriffe in den Strommarkt, Investitionen und Bürokratieabbau
Herr Krebs, der „Economist“ hat zuletzt wieder gefragt, ob Deutschland der kranke Mann Europas sei. Würden Sie bejahen?
KREBS: Nein, ich würde den Begriff nicht benutzen, aber ich glaube schon, dass die wirtschaftliche Lage schwierig ist. Russlands Krieg in der Ukraine und die damit verbundene Energiekrise haben die deutsche Wirtschaft hart getroffen. Zudem wird die Energiekrise die anstehende Klimatransformation dramatisch beschleunigen. Es besteht die Gefahr langfristiger Schäden, wenn die Politik jetzt nicht angemessen reagiert.

Veronika Grimm ist Professorin für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Wirtschaftstheorie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Sie ist außerdem Teil des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung der Bundesregierung, also der sogenannten Wirtschaftsweisen
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Würden Sie da zustimmen, Frau Grimm?
GRIMM: Ja, das Problem ist eine langfristige Wachstumsschwäche, die sich noch deutlicher ausprägen dürfte. Wir sehen schon seit einigen Jahren, dass das Produktionspotenzial der Volkswirtschaft nicht mehr so stark ansteigt. Aber jetzt kommt noch hinzu, dass durch den demografischen Wandel einer der zentralen Produktionsfaktoren, nämlich Arbeit, weniger verfügbar sein wird. Und das wird dazu führen, dass das Wachstum durch das Erwerbspersonenpotenzial beschränkt ist – einfach, weil immer weniger Menschen am Arbeitsmarkt verfügbar sind. Man kann dagegen etwas tun, aber es wird sicherlich ein einschränkender Faktor bleiben.
Das heißt, es ist hoffnungslos?
GRIMM: Nein. Aber es braucht Investitionen, die Arbeit ersetzen und technischen Fortschritt bringen. Zum Beispiel hat Künstliche Intelligenz dieses Potential. Und es braucht Investitionen in eine klimaneutrale Wirtschaft. Die Situation ist besonders herausfordernd, weil der Preisschock bei fossilen Energieträgern mit der Notwendigkeit der grünen Transformation zusammenkommt. Um die energieintensive Industrie in großen Teilen am Standort erhalten muss es mittelfristig gelingen, energieintensive fossile Vorprodukte durch die Importe grüner Energieträger zu substituieren, zum Beispiel durch den Import von grünem Ammoniak. Die Gefahr ist hauptsächlich, dass wir falsch reagieren und an alten Strukturen hängen bleiben, die hier eh keine Zukunft hätten.

Tom Krebs ist Professor für Makroökonomik an der Universität Mannheim. 2019 war er für ein Semester Gastprofessor im Bundesfinanzministerium unter Finanzminister Olaf Scholz
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KREBS: Es möchte niemand die alten Strukturen erhalten. Die gesamte Industrie muss sich transformieren, da sind wir uns einig. Nur möchte ich, dass dies in Deutschland geschieht und wir nicht die energieintensive Produktion komplett ins Ausland verlagern. Wir bieten den Unternehmen teilweise noch nicht einmal die Rahmenbedingungen, dass sie überhaupt eine Chance haben zu überleben. Ich möchte diesen Unternehmen jetzt einen zusätzlichen Anreiz geben, in strombasierte Produktionsanlagen zu investieren. Dafür brauchen sie Planungssicherheit. Ich wäre für die Verlängerung einer modifizierten Strompreisbremse perspektivisch bis 2030. Der Strompreis ist ja aufgrund der fossilen Energiekrise so hoch. Wir können für die nächsten Jahre durch den Ausbau der Erneuerbaren erwarten, dass er auch wieder niedriger sein wird.
GRIMM: So schnell dürfte der Preis aber nicht sinken, Prognosen mit Hilfe von Strommarkt-Modellen geben das zumindest nicht her. Selbst wenn die Bundesregierung ihre Ziele beim Ausbau der Erneuerbaren erreicht, brauchen wir Netze, Speicher, Flexibilitäten und Gaskraftwerke, die perspektivisch mit grünem Wasserstoff befeuert werden sollen. All das ist notwendig, weil das Stromangebot der Erneuerbaren schwankt. Es wird also herausfordernd, das Stromangebot auszubauen. Gleichzeitig wird die Nachfrage nach Strom durch Elektromobilität und Wärmepumpen steigen. Wenn wir zusätzlich noch die energieintensiven Vorprodukte wie grünen Wasserstoff in Deutschland herstellen, dann steigt die Nachfrage noch stärker, und damit der Strompreis.
Haben uns die vergangenen Monate denn nicht gelehrt, dass wir uns keine zu große Abhängigkeit bei Energieimporten schaffen sollten?
GRIMM: Stimmt. Wir dürfen nicht nur beim billigsten kaufen, wie in der Vergangenheit. Dann wären wir schnell wieder von den nächsten Autokratien abhängig. Aber die gute Nachricht: Es gibt viel mehr Länder, die klimaneutral Wasserstoff herstellen können, als es Länder gibt, die heute Gas und Öl exportieren. Dadurch ist es möglich, dass ein wettbewerblicher globaler Markt für grüne Energieträger entsteht und ein diversifizierter Bezug möglich ist.
Um die Klimatransformation zu schaffen, braucht es ja nicht nur niedrige Strompreise, sondern auch Investitionen. Wie sollten die geschaffen werden?
KREBS: Ich wäre für eine öffentliche Investitionsoffensive, um die Investitionen in die Klimatransformation zu steigern. Dazu gehört auch die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung und die Stärkung der Personaldecke in den Bauämtern der Kommunen. Das erzeugt dann auch die Beschleunigung bei den Planungs- und Genehmigungsverfahren.

Industriepolitik ist das neue Zauberwort für alles, was nicht richtig läuft. Davon gibt es einiges – aber keine richtige Strategie dagegen. Die Folge: wilde Investitionsprogramme mit ungewissem Nutzen
GRIMM: Sie wollen in Zeiten der Fachkräftemangels mehr Personal in der öffentlichen Verwaltung einstellen? Das sehe ich kritisch. Man sollte stattdessen Prozesse digitalisieren und Bürokratie abbauen. Wir brauchen schlankere Mechanismen: Während wir in Europa mittels aufwendiger Verfahren Fördergelder vergeben, gibt es zum Beispiel beim Inflation Reduction Act (IRA) in den USA nach einfachen Regeln Steuerboni.
KREBS: Am Ende hängt die Genehmigungsbeschleunigung aber auch an der Personaldecke in den kommunalen Verwaltungen. Ansonsten stimme ich ihnen zu, dass der IRA besser funktioniert als unsere Industriepolitik. Wir bräuchten auch in Deutschland viel mehr Mut. Im Wachstumschancengesetz gibt es eine Investitionsprämie für Klimaschutz. Das ist sinnvoll, aber zu klein gedacht. Für das Gesetz sind jährlich rund 3 Milliarden Euro vom Bund vorgesehen. Das sind noch nicht mal 0,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Wie soll ich denn damit bitte einen wirtschaftlichen Impuls setzen?
GRIMM: Es gibt natürlich Bereiche, in denen staatlich investiert werden muss. Allen voran das Bildungssystem, aber auch im Bereich der Verkehrsinfrastuktur oder bei Wasserstoffnetzen. Insgesamt sollte der Staat aber vor allem klare Rahmenbedingungen für private Investoren setzen. Der unbürokratische Ansatz des IRA ist wirklich gut. Er ist aber nicht in allen Teilen der große Wurf.
Woran denken Sie?
GRIMM: Der Kompensationsmechanismus im IRA hat die gleichen Kinderkrankheiten wie das frühere Erneuerbare-Energien-Gesetz: Es gibt Tax Credits, zum Beispiel pro Kilogramm grünen Wasserstoffs. Wenn die Zahlungen so hoch sind, dass das Programm verfängt, dann explodieren auch die Kosten und es gibt unerwünschte Zufallsgewinne bei den Unternehmen. Dann wird nachgebessert, weil es zu teuer wird, was wiederum dazu führt, dass anschließend zu wenig investiert wird. Und später geht es wieder von vorne los. Insofern bin ich mir auch nicht sicher, ob der IRA die gepriesene Investitionssicherheit gibt. Außerdem sind unsere Fördervolumina für die grüne Transformation in Europa ähnlich hoch. Da müssen wir uns auch nicht vor den USA verstecken.
Bei den aktuellen Strompreisen steht Deutschland aber definitiv hinter den USA. Wie können wir da wettbewerbsfähiger werden?
GRIMM: Ein ganz großer Teil des Strompreises ist in Deutschland staats- und nicht marktgetrieben – durch Steuern, Abgaben und Umlagen. Das ließe sich recht leicht reduzieren. Was wir nicht tun sollten, ist, „Zufallsgewinne“ abzuschöpfen. Dann investiert am Ende niemand mehr.

Windkraft überholt bei der Stromerzeugung die Kohle. Bislang aber wurde 2023 sehr viel weniger Strom ins Netz eingespeist. Nur ein Energieträger ist im Plus
KREBS: Eine Senkung der Stromsteuer hört sich erst einmal gut an, aber das muss auch finanziert werden. In der Debatte fehlt mir ein Vorschlag, bei welchen Projekten der Bundesregierung gekürzt werden soll, um die entgangenen Steuereinahmen auszugleichen. Ich würde eher auf die Verlängerung einer modifizierten Strompreisbremse perspektivisch bis 2030 setzen. Die Finanzierung würde durch den Wirtschaftsstabilisierungsfonds erfolgen, der für solche Maßnahmen aufgelegt wurde. Dies würde Planungssicherheit in einer Zeit schaffen, in der Turbulenzen auf dem Strommarkt dazu führen, dass der Marktpreis über seinem langfristigen Gleichgewichtsniveau liegt. Das wäre dann aber ein Markteingriff ähnlich wie bei der aktuellen Gas- und Strompreisbremse.
An den beiden Bremsen haben Sie mitgearbeitet, Frau Grimm. Hat Herr Krebs recht – hat der Markt trotzdem versagt?
GRIMM: Nein, wir haben ja eben nicht in den Markt, also den Preisbildungsprozess, eingegriffen. Das war gerade der Clou. Die Märkte haben trotzdem funktioniert.
KREBS: Interpretationssache. Ich denke, dass Energie- und Finanzmärkte in Krisenzeiten überreagieren und in diesem Sinne der Preisbildungsprozess nicht zu einem gesamtwirtschaftlich wünschenswerten Ergebnis führt. Deshalb schlage ich auch eine modifizierte Strompreisbremse vor, die eine wirkliche Preisbremse ist.
Lassen Sie uns bei Markteingriffen bleiben. Was halten Sie von den milliardenschweren Subventionen, die die Bundesregierung gerade für Industrieansiedlungen ausgibt? Sind die notwendig oder müssen wir den Strukturwandel zulassen, Frau Grimm?
GRIMM: Langfristig müssen wir Strukturwandel zulassen. Es macht keinen Sinn, Industrien künstlich mit hohen Subventionen zu erhalten. Dadurch werden Fachkräfte gebunden und neue, besonders zukunftsorientierte Industrien ausgebremst. Es gilt vielmehr, Ökosysteme für zukunftsorientierte Branchen zu schaffen, dabei kann man auch mal mit Geld einzelne Firmen anlocken. Ob es gleich zweistellige Milliardenbeträge sein müssen, da bin ich mir nicht so sicher.
KREBS: Es gibt gute ökonomische Argumente für diese Art der Förderung, aber man muss sich jeden Fall einzeln anschauen. Im Gegensatz zu vielen anderen Ökonomen lehne ich eine solche Industriepolitik nicht grundsätzlich ab.
Was macht Ihnen eigentlich Hoffnung, dass wir aus dieser schwierigen Situation gestärkt hervorgehen?
GRIMM: Die Menschheit hat in der Geschichte schon viele Umbrüche erlebt. Es wird hitzig um die Richtung gestritten und vor allem werden Besitzstände verteidigt. Der Veränderungsdruck steigt aber stetig – von innen wie von außen –, und das führt dazu, dass die Handlungsfähigkeit steigen wird.
KREBS: Wir haben schon sehr viel gemacht. Ja, es hat lange gedauert, es gab sehr viel Zwist und schlechte Kommunikation. Aber am Ende haben wir zum Beispiel ein Wachstumschancengesetz, wir haben die Bahn gestärkt und den Ausbau der Übertragungsnetze vorangebracht. Das ist gut. Nur: Die Probleme sind noch mal sehr viel größer geworden. Und da sehe ich jetzt auch das Finanzministerium in der Pflicht, weil es am Ende immer um finanzielle Mittel geht. Der Plan der Ampel-Regierung vor der Energiekrise war ein guter Plan – gut durchfinanziert. Das ist er jetzt aber nicht mehr. Und solange diese Realitätsverweigerung weiterhin Bestand hat in Teilen der Bundesregierung, werden wir nicht vorankommen.
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