Diese Woche wollten die EU-Innenminister sich auf schärfere Asylregeln einigen. Der Durchbruch dabei war, dass das asylfreundliche Deutschland doch noch zustimmen will. Dann meldet Italien plötzlich wieder Vorbehalte an. Was ist da los?
180.000 Flüchtlinge sind dieses Jahr schon übers Mittelmeer nach Europa gekommen. Über die Ost-Route über Belarus kamen mit unfreundlicher Unterstützung Russlands noch Zehntausende weitere. Allein Deutschland hat dieses Jahr schon mehr als 200.000 Asylbewerber aufgenommen. Migrationsexperten sind sich einig, dass es nicht die eine große Maßnahme gibt, um die Zahlen herunterzubringen. Doch das, was man tun kann, sollte auf europäischer Ebene passieren.
Nur was? Darum ringen die EU-Staaten seit Jahren, bis es in diesem Sommer eine Einigung für das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) gab. Doch dabei blieben einige Fragen offen, die diese Woche noch einmal zu einer Art Nachzugsgefecht in Brüssel geführt haben - das den hart errungenen Kompromiss noch einmal in Gefahr brachte. Was ist da los? Warum steht Deutschland als Bremser da? Ist das gerechtfertigt? Und was steht in der Krisenverordnung? Fragen und Antworten dazu.
Was will die EU gegen die hohen Zuwanderungszahlen unternehmen?
Im Juni gab es eine grundsätzliche Einigung auf ein gemeinsames europäisches Asylsystem, kurz: GEAS. Wichtigste Maßnahme dabei ist, dass Migranten nicht mehr in die EU einreisen sollen, sondern erst mal in Lagern unter haftähnlichen Bedingungen an der Grenze untergebracht werden. Dort soll dann ihr Asylanspruch geprüft werden. Das soll zwölf Wochen dauern - wer keine Chance auf Asyl hat, soll sofort abgeschoben werden. Darauf einigten sich die EU-Staaten. Für SPD und FDP war das kein großer Sprung. Für die Grünen hingegen war das sehr schmerzhaft. Sie hatten gefordert, dass zumindest Familien mit Kindern nicht in diesen Lagern leben müssen. Doch letztlich konnten sie sich nicht damit durchsetzen.
Warum gibt es jetzt schon wieder Streit?
Diese Woche ging es um die Krisenverordnung, die ein wichtiger Baustein des GEAS ist. Sie würde deutlich verschärfte Maßnahmen erlauben, wenn besonders viele Migranten eintreffen - so wie 2015 und 2016. Dann sollen die Asylsuchenden länger in den Aufnahmelagern bleiben müssen, die Rede ist von bis zu 40 Wochen, selbst bei guten Asylchancen. Außerdem soll der Kreis derer erweitert werden, die für die strengen Verfahren an der Grenze infrage kommen. Eigentlich sollte die schon im Juli beschlossen werden, doch hinter den Kulissen wurde noch hart verhandelt. Länder wie Polen und Ungarn wollten eine weitere Verschärfung, während Deutschland und andere Länder die Ideen zu weit gingen. Deutschland - mit den Grünen als treibende Kraft - wollte verhindern, dass Familien mit Kindern nach illegalem Grenzübertritt in Asyl-Schnellverfahren unter haftähnliche Bedingungen kommen.
Warum stimmt Deutschland nun doch zu?
Da wäre zum einen das echte oder vermeintliche Machtwort von Kanzler Olaf Scholz zu nennen. Der hatte am Mittwoch entschieden, dass Deutschland zustimmt. FDP und Grüne hatten vorher wieder einmal öffentlich darüber gestritten. Die Zeit drängt - im kommenden Juni ist Europawahl und bis dahin sollten die EU-Regierungen etwas beim Thema Migration vorweisen können. Sonst, so die Befürchtung, könnte es zu einem Triumphzug der Rechtspopulisten, also AfD und ähnlich gesinnte Kräfte, in Europa, kommen. Es gibt also Druck, etwas zustande zu bringen.
Der zweite Grund für Deutschlands Zustimmung sind die Nachverhandlungen. Außenministerin Annalena Baerbock und Innenministerin Nancy Faeser haben sich in den vergangenen Tagen noch einmal mit den europäischen Kollegen zusammengesetzt. Faeser zufolge sollen Familien mit Kindern nun bei den Aufnahmeverfahren "priorisiert" behandelt werden. Für besseren Schutz von Familien mit Kindern habe es keine Mehrheit gegeben, so die SPD-Politikerin. Außerdem sollen humanitäre Standards bei der Flüchtlingsaufnahme nicht abgesenkt werden, sagte sie. Baerbock sagte: "Die letzten 48 Stunden haben gezeigt, wie wichtig es ist, bis zur letzten Minute als deutsche Ministerin für deutsche, aber auch eben für europäische Interessen zu kämpfen." Das Sterben auf dem Mittelmeer dürfe niemals Alltag werden. Dieses Jahr seien schon mindestens 2300 Menschen ertrunken.
Was für Vorbehalte hat Italien jetzt noch?
Als schon alles auf eine Einigung hindeutete, hob plötzlich Italiens Außenminister die Hand. Bei einem Treffen mit Baerbock in Berlin sagte er am Donnerstag, seine Regierung brauche noch Bedenkzeit. Es müsse verhindert werden, dass Schlepper die Not der Menschen ausnützen. "Insofern muss man sehr stark reagieren gegen diese Schlepperorganisationen." Dazu müssten Abkommen geschlossen werden mit den Ländern, aus denen die Migranten starteten. Tajani sprach sich für eine strategische Aktion Europas mit Investitionen aus, die Wachstum in Afrika förderten. "Es ist schwierig, dass hier ein einziges Land damit zurechtkommt." Konkret geht es ihm um die Möglichkeit, die Arbeit von privaten Seenotrettern als "Instrumentalisierung" von Migranten zu werten und damit bestrafen zu können, berichtete die "Süddeutsche Zeitung". Das wiederum wäre für die Grünen eigentlich unannehmbar.
Kommt es noch zur Einigung?
Die Chancen stehen gut, zumindest strahlen die meisten Beteiligten großen Optimismus aus. Laut dem spanischen Innenminister Fernando Grande-Marlaska - Spanien hat gerade die Ratspräsidentschaft inne - ist eine Einigung nahe. Auch andere Verhandlungspartner stellten die noch offenen Fragen als Kleinigkeiten dar. Diese letzten Kühe sollen nun die EU-Botschafter vom Eis holen. Dass nun nicht mehr auf Ministerebene verhandelt wird, ist daher ein gutes Zeichen. Einstimmigkeit ist ohnehin nicht notwendig in dieser Entscheidung. Die notwendige Mehrheit gäbe es auch ohne Polen und Ungarn, aber auch ohne Italien. Doch über Italiens Kopf hinweg zu entscheiden, wäre ein Affront - nicht zuletzt, weil Mittelmeerflüchtlinge meist die italienische Insel Lampedusa vor der Küste Nordafrikas ansteuern. Außerdem muss anschließend noch das EU-Parlament zustimmen. Und die Parlamentarier wollen keiner Krisenverordnung zustimmen, die nicht konsensfähig ist.