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Weg über die Balkanroute: Warum die Flüchtlingszahlen derzeit steigen

Kommunen und Bundesländer registrieren eine stark steigende Zahl an Asylbewerbern, die über die Balkanroute nach Deutschland kommen. Sie warnen vor einer ähnlich dramatischen Situation wie ab dem Jahr 2015. Was ist da los?

Der "Migrationsdruck steigt" und werde für die ersten Bundesländer "in Kürze kaum noch zu bewältigen sein" - der sächsische Innenminister Armin Schuster lässt keinen Zweifel daran aufkommen, wie ernst es ihm ist. Denn die Zahl der Flüchtlinge, die derzeit vor allem über die sogenannte Balkanroute nach Deutschland einreisen, nimmt zu. Das werde zu immensen Problemen in der Unterbringung führen, warnt der CDU-Politiker. "Wir steuern auf eine Lage zu, wie wir sie 2016/17 schon einmal hatten." Nicht nur Sachsens Innenminister zieht diesen Vergleich. Auch laut Deutschem Landkreistag bahnt sich eine ähnliche Situation an wie ab dem Jahr 2015, als die Aufnahme von Schutzsuchenden einen beispiellosen gesamtgesellschaftlichen Kraftakt zur Folge hatte.

Da die Flüchtlinge aus der Ukraine keinen Antrag auf Asyl stellen müssen, sind die Dimensionen in den offiziellen Zahlen dieser Tage noch andere: Bis einschließlich 28. September hat die Bundespolizei rund 56.800 unerlaubte Einreisen nach Deutschland festgestellt. Die meisten Menschen kommen dabei in Bayern und Sachsen an. Von Januar bis August wurden in Bayern 15.433 unerlaubte Grenzübertritte durch die Bundespolizei registriert. Im selben Zeitraum 2021 waren es 8706. In Sachsen wurden 7397 unerlaubt eingereiste Personen an den Grenzabschnitten zu Polen und Tschechien festgestellt, im Vergleich zu 2402 im Vorjahreszeitraum.

Beim Bundesamt für Migration gingen bundesweit bis Ende August rund 115.000 neue Asylanträge ein - eine Zunahme von etwas mehr als einem Drittel im Vergleich zum Vorjahr. Die meisten Menschen kamen dabei aus Syrien, Afghanistan und dem Irak. "Insgesamt erwarten wir dieses Jahr 200.000 Asylanträge zusätzlich zu den rund eine Million registrierten Flüchtlingen aus der Ukraine", erklärte die Vizevorsitzende der Unionsfraktion, Andrea Lindholz, ntv.de. In Österreich sind die Zahlen noch höher: Von Januar bis August dieses Jahres beantragten 56.000 Menschen in dem Land mit rund neun Millionen Einwohnern Asyl. Das waren mehr als im gesamten vergangenen Jahr, aber weniger als während der Flüchtlingskrise im Jahr 2015.

"Wir haben bisher einen eher überschaubaren Anstieg von Schutzsuchenden aus anderen Staaten, die normalerweise nicht groß thematisiert werden würden, die aber aufgrund des Stresses im Aufnahmesystem dann doch relevant sind", sagt Marcus Engler vom Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung im Gespräch mit ntv.de. Denn zu den nun ankommenden Menschen kommen die geschätzt eine Million Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine. "Das erzeugt erheblichen Stress, nicht im Asylsystem, unter das die Ukrainerinnen und Ukrainer nicht fallen, sondern im Aufnahmesystem. Vor allem bei der Unterbringung, aber auch bei Integrationskursen und Beratungsangeboten", so Engler.

Aus Turnhallen werden Unterkünfte

In vielen Bundesländern macht sich die Angst breit, dass bei einer weiterhin steigenden Zahl von zusätzlichen Asylbewerbern die adäquate Versorgung nicht mehr gewährleistet werden könnte. Bayern etwa hat neben 148.000 Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine fast 22.000 Asylbewerber aufgenommen. Mancherorts gehen die Kapazitäten bereits zur Neige. In Bochum halten sich rund 150 unbegleitete minderjährige Geflüchtete auf und damit deutlich mehr als üblich, wie der WDR berichtet. Weil dort die Zahl der freien Plätze in den Unterkünften zurückgeht, wurde bereits eine Turnhalle zur Notunterkunft für die Jugendlichen zweckentfremdet. Das erinnert schon eher an 2015.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser zeigte sich zuletzt besorgt angesichts der steigenden Anzahl von Menschen, die sich über die Balkanroute auf den Weg nach Deutschland machen, und gestand dabei eine gewisse Ratlosigkeit ein. "Warum die Migration auf einmal so zugenommen hat" müsse sie noch herausfinden und kündigte dazu ein Gespräch mit Serbien an.

Tatsächlich scheint Serbien ein Eingangstor nach Europa zu sein. So genießen dort Menschen aus Indien oder Bangladesch Visafreiheit, können also etwa über den Luftweg legal einreisen. In Richtung Westen geht es für viele aber nur illegal weiter. "Hierbei werden sie von etablierten und gewachsenen Schleuserstrukturen unterstützt", so ein Sprecher der Bundespolizei.

Den Grund, warum es gerade jetzt zu einem Anstieg der Flüchtlingszahlen kommt, liegt der österreichischen Migrationsforscherin Judith Kohlenberger zufolge auch an einem saisonalen Effekt. "Wir erleben immer im Spätsommer und Frühherbst einen letzten Anstieg von Migrations- und Fluchtbewegungen", sagt Kohlenberger, die an der Wirtschaftsuniversität Wien forscht, ntv.de. Sie erklärt dieses Phänomen mit einem "Jetzt oder nie"- Effekt: "Bevor im Winter die Wanderung über die grüne Grenze oder auch die Mittelmeerüberfahrt unmöglich wird, kommt nochmal ein letzter Schub."

Folge des Ukraine-Kriegs

Eine weitere Rolle spiele die geopolitische Lage. Insbesondere die Auswirkungen des russischen Angriffskriegs in der Ukraine, wie ausbleibende Getreidelieferungen, ließen existenzielle Nöte in den Ländern des globalen Südens zunehmen, so Kohlenberger. Sie beobachtet dabei eine Verschiebung auf Zielländer mit erhöhtem Arbeitskräftebedarf. In Italien, Spanien oder Portugal herrscht akuter Arbeitskräftemangel, viele hoffen auf eine Arbeit, etwa als Erntehelfer. "Werden Menschen in Österreich von der verstärkten Grenzkontrolle aufgegriffen, so bleibt ihnen kaum etwas anderes übrig, als einen Asylantrag zu stellen, weil sie andernfalls abgeschoben werden. Eigentlich wollen sie aber weiterwandern, unter anderem in Richtung Deutschland. Und das tun viele von ihnen dann auch."

Die deutschen Behörden registrieren derzeit vorwiegend Menschen aus klassischen Asylländern wie Syrien und Afghanistan. Das richtet den Fokus auch auf die Türkei, wo Flüchtlinge im Tausch gegen Milliardenzahlungen aus der EU ferngehalten werden sollen. Ein Deal ohne rechtliche Bedeutung, dafür von ausgewiesener Brüchigkeit. Präsident Recep Tayyip Erdogan nutzt die rund vier Millionen Syrer im Land als Druckmittel. Die Situation der Menschen dort ist prekär, viele wollen weg.

Auf Telegram ruft ein syrisches Flüchtlingskollektiv zum organisierten Exodus aus der Türkei aus. Flüchtlinge sollen sich mit Schlafsäcken, Zelten, Rettungswesten, Trinkwasser, Konserven und Erste-Hilfe-Sets ausrüsten. Es sollen Konvois mit maximal 50 Personen und einem Anführer gebildet werden. Dem Kanal folgen 70.000 Menschen. "Es war leider absehbar, dass sich auch syrische Flüchtlinge, die in der Türkei untergebracht sind, auf den Weg in die EU machen", so Kohlenberger. "Das zeigt, wie wenig nachhaltig diese Externalisierungspolitik ist."

Die Gemengelage auf der Balkanroute ist schwer zu überblicken. Ein neues 2015 sieht Kohlenberger nicht, doch ganz offensichtlich treten derzeit wieder mehr Menschen den gefährlichen Weg in den Westen an. Österreich hat auf die steigenden Flüchtlingszahlen reagiert und Schwerpunktkontrollen an den elf Grenzübergängen zur Slowakei für zehn Tage eingeführt. Auch CSU-Politikerin Lindholz fordert von Bundesinnenministerin Faeser die Errichtung stationärer Grenzkontrollen. Die Ministerin wiederum will sich auf dem einberufenen Flüchtlingsgipfel am 11. Oktober mit den Kommunen über einen Fahrplan für den Winter beraten.