Künstliche Intelligenz könnte erschaffen, was der EU bislang fehlt: Eine kritische Öffentlichkeit. Doch Brüssel möchte KI derzeit lieber zum Schnüffeln in privaten Nachrichten nutzen.
Vor ein paar Tagen habe ich in fließendem Italienisch etwas über das Potential von KI für die politische Kommunikation gesagt - dabei kann ich nicht einmal eine Speisekarte in einer Trattoria ohne Trudeln ablesen. Gelernt habe ich dafür kein bisschen. Ich habe nur ein deutsches Video eingesprochen und beim Start-up Heygen hochgeladen. Zwei Tage später bekam ich das Ergebnis und da entfuhr mir und vielen Zuschauern dann doch das eine oder andere "Mamma mia!" und "incredibile!".
Herrlich, was mit KI alles geht! Sprachen sprechen, ohne sie zu können - die Technik beschert uns ein globales Pfingstwunder. "Mein" Italienisch ist zwar ein bisschen hölzern, aber passabel, sagte man mir. Ich könnte mit Heygen auch eine Reihe anderer Sprachen "lernen". Im Marketing-Video der Firma spricht etwa der Promi-Youtuber Casey Neistat Hindi.
Heygen macht derzeit die größte Welle, ist aber natürlich nicht allein. Spotify testet KI-übersetzte Podcasts und auch Youtube bastelt an einem ähnlichen Werkzeug.
Wenn der Boss in vielen Zungen spricht
Die Schwächen der Technik lassen sich leicht aufdecken. Übersetzt man das KI-Italienisch etwa per KI zurück in KI-Deutsch, klinge ich, als hätte ich eine Lobotomie hinter mir. Man erkennt, was da passiert: Heygen baut aus 30 Sekunden Videomaterial einen digitalen Wieduwilt-Klon, der mit künstlicher Stimme praktisch alles vorlesen kann, sich dabei allerdings bisweilen nur ungefähr an die Vorlage hält. Außerdem wurde das Video leicht gekürzt, um eine allzu verworrene Formulierung auszusparen.
Es ist also wie mit ChatGPT & Co.: Alles sehr beeindruckend, alles noch recht aufwändig, noch, noch, noch. Und bald?
Wenn Menschen auf einmal glaubhaft in fremden Zungen sprechen, hat das gewaltige Auswirkungen darauf, wie wir kommunizieren können. Bosse und Bossinnen globaler Unternehmen können sich in der Muttersprache an die Belegschaft wenden - und womöglich kann die KI auch gleich, think out of the box, das schwachsinnige Business-Denglisch ausradieren! Wer das Gendern hasst, kann sich vielleicht einen Gender-freien Klon abonnieren! Die Möglichkeiten scheinen grenzenlos.
Kritik statt Brüssel-Genörgel
Und die EU bekäme womöglich endlich das, was ihr bislang fehlt: Eine echte Medienöffentlichkeit. Debatten über Personen, Entscheidungen. Kritik, die über bloßes Brüssel-Genörgel wie die öde Gurkenkrümmungsgeschichte und dumpfen Nationalismus hinausgeht. Das, was in Brüssel und Strasbourg beschlossen würde, fiele nicht immer so plötzlich vom Himmel.
Derzeit bleiben Brüsseler Pläne in Deutschland so lange unbemerkt, bis es zu spät ist. Die Datenschutzgrundverordnung macht die Cloud-Nutzung in Deutschland zu einem Höllenritt und verbietet die Nutzung simpler Bürosoftware in Schulen, Behörden und Unternehmen. Debatte? Zu spät und noch immer zu leise.
Derzeit erwägt Brüssel, dem Führerschein für Ältere ein Ablaufdatum zu verpassen. Debatte? Kaum zu hören. Die EU pflügt gerade mit mehreren gewaltigen Gesetzesvorhaben die digitale Welt um, mit dem Digitale Dienste Gesetz, dem Gesetz über digitale Märkte, dem KI-Gesetz und und und. Debatte? Praktisch nur in Fachmedien.
Spionage ohne Aufschrei
Dabei greifen viele Regeln viel tiefer, als es der nationale Gesetzgeber je wagen würde. Die Kommission möchte etwa per KI die Chats überwachen. In Deutschland blieb die Debatte dezent. Dieser Tage machte ein internationales Recherchenetzwerk bekannt, was für ein Lobbynetzwerk für diese EU-Flächenspionage wirbt und dass man die Pläne bald von Kinderpornografie auf andere Probleme ausweiten möchte. Wo bleibt der Aufschrei?
Die Kommissionschefin Ursula von der Leyen selbst regnete quasi vom Himmel ins Amt, eine echte Personaldebatte gab es darüber nicht. Das Demokratiedefizit der EU steckt nicht nur in ihrer gesetzlichen Verfasstheit - es fußt auch darauf, dass eine laute, engagierte, manchmal unsachliche, polemische, also reinigende Öffentlichkeit fehlt.
Könnte KI helfen? Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob man einen EU-Kommissar oder Parlamentarier mit Untertiteln verfolgt oder in eigener Sprache sprechen hört - nicht gedolmetscht, sondern mit seiner eigenen Stimme, dem eigenen Gesicht, lippensynchron.
Ist das nicht gefährlich?
Einer der Heygen-Gründer schrieb mir auf Twitter (jetzt "X"), das Unternehmen arbeite bereits an Live-Avataren und wolle diese "voraussichtlich noch in diesem Jahr" vorstellen: Also KI-Abbildungen, die in der Lage sind, live zu sprechen - und so lippensynchron zu übersetzen.
Wenn Sie diese Kolumne in Deutschland lesen, werden Sie jetzt das tun, worauf sie der deutsche Zeitgeist seit etwa 30 Jahren trimmt: Sie bekommen Angst und haben Bedenken. Ist Heygen nicht eine chinesische Gründung? Denen da drüben ist doch alles zuzutrauen! Was, wenn die digitalen Klone missbraucht werden, um Lügen in die Welt zu setzen?
Keine Sorge. Das ist längst passiert: Der ZDF-Journalist Christian Sievers etwa hat sich unlängst als Sprecher für eine betrügerische "Geldanlage" wiederentdeckt. Im Video preist Sievers dessen Vorteile, die natürlich, oh Ironie, mit KI zu tun hätten. Es spricht aber ein KI-Klon - mit welchem Werkzeug dieser Klon gebaut wurde, ist nicht bekannt.
Mehr Streit wagen
Geht nun also die Welt unter? Menschen werden immer wieder auf irgendetwas hereinfallen, KI ändert daran wenig und auch "deepfakes", also mit Hilfe von "KI" (hier: deep learning) synthetisierte Fälschungen, sind nicht neu. Wer sich aber auf gute Quellen verlässt, etwa den Videokanal des EU-Parlaments oder etablierte Nachrichtenkanäle, muss nicht fürchten, in einer Lügenwelt aus KI-Avataren aufzuwachen.
Wenn es gut läuft, treibt uns die KI nicht weiter auseinander, sondern schafft neue Verbindungen: Eine EU-Öffentlichkeit, in der man über EU-Politiker in der Schlange beim Bäcker streitet und flucht wie jetzt über Baerbock, Scholz und Merz. Wir würden mehr Streit wagen. Es gäbe dann womöglich so etwas wie Begeisterung für die Europawahl und ihre Kandidaten.
Diese Europawahl ist übrigens, falls Sie es nicht auf dem Zettel haben, am 9. Juni 2024. Das ist kurz nach Pfingsten. Gehen Sie hin - auch wenn das digitale Sprachenwunder bis dahin ausbleibt und Ihnen die EU-Politik weiterhin etwas chinesisch vorkommt.