Die Ukraine wappnet sich für den Winter - die Strom- und Wärmeversorgung zu sichern, wäre schon in Friedenszeiten schwer genug. Doch nun sind wieder massive russische Angriffe auf die Energieinfrastruktur zu erwarten. Allerdings hat die Ukraine mittlerweile einige Vorteile.
An den vergangenem Winter haben die Menschen in der Ukraine keine guten Erinnerungen. Mit im Schnitt 50-60 Raketen pro Woche griff Russland die Energieinfrastruktur zwischen Oktober 2022 und März 2023 an. Langstreckendrohnen iranischen Ursprungs kamen hinzu. Zwar hielt das ukrainische Energiesystem stand - doch mussten zeitweise Atomkraftwerke heruntergefahren werden, um Schäden am Stromnetz abzuwenden. Es war auch keine Seltenheit, dass selbst weit weg von der Front, etwa in Kiew oder in Lwiw, ganze Stadtteile für mehrere Tage ohne Strom, Heizung und Leitungswasser blieben. Die neue Normalität: Ein Leben mit sogenannten planmäßigen Stromausfällen mit je drei Stunden Strom und drei Stunden ohne Strom.
Nun steht Oktober wieder vor der Tür - und die Geschichte wiederholt sich bereits zumindest teilweise. Wie vor einem Jahr finden erste, noch vergleichweise kleine Angriffe auf Energieobjekte schon im September statt. Nach dem ersten nennenswerten Beschuss der Energieinfrastruktur seit sechs Monaten am 21. September blieben fast 400 Ortschaften zeitweise ohne Strom. Schon länger berichtet zudem der ukrainische Militärgeheimdienst HUR von verstärkten Versuchen der Russen, den Zustand ukrainischer Energieanlagen aufzuklären. Und weil die große Angriffswelle im letzten Jahr am 10. Oktober begann, rechnet man jederzeit damit, dass es wieder losgehen könnte.
Was die Stromversorgung angeht, war es ein ruhiger Sommer, auch wenn es an ganz heißen Tagen wegen der verstärkten Nutzung von Klimaanlagen und der allgemeinen Instabilität des Netzes gelegentlich zu Ausfällen kam. Doch jetzt steigt wieder die Nachfrage nach Akkus, Generatoren, Kerzen und Powerbanks. Das ukrainische Energieministerium will zwar den Plan der Erneuerung des Stromsystems Ende September zu 80 Prozent erfüllt haben. Dabei geht es aber eher um Notreparaturen und nicht um den vollständigen Wiederaufbau. Der könnte Experten zufolge selbst unter friedlichen Bedingungen bis 2029 oder 2030 dauern.
Kaum direkte Angriffe auf AKW
Der ukrainische Staat hält sich aus Sicherheitsgründen über die wahren Ausmaße des Schadens aus dem letzten Winter bedeckt. Aus einem UN-Bericht geht jedoch hervor, dass im Land Ende April nur noch halb so viel Strom produzierte wurde vor dem Beginn des russischen Angriffs im Februar 2022. Der Output von Wärmekraftwerken brach sogar um rund 68 Prozent ein. Und während die ukrainischen Atomkraftwerke immer noch mehr als die Hälfte des Stroms produzierten, war der Wegfall des abgeschalteten und unter Besatzung geratenen AKW Saporischschja extrem spürbar.
Zudem: Russland hat zwar die so wichtigen Atomkraftwerke kaum direkt angegriffen, zumal es sehr schwierig ist, den Objekten mit Marschflugkörpern bedeutenden Schaden zuzufügen – schließlich wurden sie mit der Möglichkeit eines Atomkriegs im Hinterkopf gebaut. Umso stärker zielten die Russen daher auf Transformatoren der Umspannwerke, die in der Ukraine nahe dem Kriegsgebiet gebaut werden und deren Herstellung auch im Ausland lange dauert. Dem gleichen UN-Bericht zufolge wurden 42 von 94 kritischen Transformatoren beschädigt oder zerstört.
Daher sei es umso schwerer einzuschätzen, wie gut die Ukraine auf den Winter tatsächlich vorbereitet ist, meint Andrij Herus, der Vorsitzende des Energieausschusses im ukrainischen Parlament. Die bloßen Zahlen zur Stromerzeugung, also der dramatische Rückgang, sagen ihmzufolge wenig aus. Denn durch die Flüchtlingswelle und den Wegfall eines Teils der Schwerindustrie ist auch der Stromverbrauch stark gesunken.
Es komme aber darauf an, ob Umspannwerke in der Lage sind, den Strom an die Endkunden zu liefern. "Die gesamte Ausrüstung kann funktionieren, aber an manchen Stellen hat man drei Transformatoren in der Reserve und an anderen nur einen", betont der Abgeordnete gegenüber ukrainischen Medien. "Im Falle neuer Angriffe wird dies eine Schlüsselrolle spielen. Die Russen wissen ganz genau, dass die Herstellung der Generatoren sehr lange dauert."
Russland hat womöglich nicht mehr so viele Raketen
Was sich in der Ukraine jedoch definitiv verbessert hat, ist die Flugabwehr. Westliche Systeme wie Patriot oder IRIS-T haben sich als sehr effektiv erwiesen. Die Ukraine ist allerdings schlicht zu groß, um das gesamte Land mit Flugabwehr zu schützen, wie gut auch immer diese ist. Andererseits: Während Russland wohl nicht in der Lage sein wird, so viele Raketen wie bei der vorigen Welle zu schießen, werden etwa ursprünglich iranische Kampfdrohnen inzwischen in Russland selbst produziert. Diese werden oft gezielt nicht für Beschädigungen der Objekte, sondern für Überlastung der Flugabwehr eingesetzt, damit Marschflugkörper und Raketen ein leichteres Spiel haben.
Daher arbeitet die Ukraine nicht nur an der Verbesserung der Flugabwehr, sondern auch an technischen Befestigungen für konkrete Energieanlagen. Ukrainische Energiebetreiber wollen sich zu den Details dazu allerdings nicht äußern. Ein wichtiger Faktor ist darüber hinaus das Wetter. Der milde Winter 2022/2023 hat beim Überstehen der Angriffe massiv geholfen. Auch ohne den russischen Beschuss müsste die Ukraine bei Temperaturen zwischen -5 und -7 und weniger Grad auf planmäßige Stromausfälle umstellen, schätzt Wolodymyr Omeltschenko, Direktor der Energieprogramme der Denkfabrik Zentr Rasumkowa. Die Angriffe aus dem Nachbarland würden die Lage zusätzlich verschärfen.
Um diese eventuell doch zu verhindern, setzt die Ukraine auch auf Abschreckung. So kündigt der neue Verteidigungsminister Rustem Umerow an, auf möglichen Beschuss der Energieinfrastruktur durch Russland antworten zu wollen. Tatsächlich hat Kiew diesmal dafür mehr Möglichkeiten. Während die Ukraine westliche Waffen auf dem international anerkannten russischen Gebiet nicht einsetzen darf, gilt das nicht etwa für die besetzte Krim, deren überschaubares und verwundbares Energiesystem Kiew besser bekannt ist. Sollte Russland also wieder mit Angriffen beginnen, ist es nicht ganz undenkbar, dass der ein oder anderer Marschflugkörper der Klasse Storm Shadow auf Kraftwerke auf der Krim fliegen könnte.