1. Wer hohe Strom- und Gastarife bezahlt, bekommt höhere Entlastungshilfen – die Politik muss aufpassen, dass mit den Bremsen nicht Schindluder getrieben wird
Sparsamkeit ist nicht besonders angesehen in unserer Gesellschaft, in der die Konsumbegeisterung immer noch als wichtige Triebkraft des Wirtschafts- und Zusammenlebens gefeiert wird – und Geiz als hässliche Untugend gilt. »Wer immer sparen will, der ist verloren«, hat der Schriftsteller Theodor Fontane behauptet, »auch moralisch.« Ich selbst finde Menschen, die viel Zeit ihres Lebens damit verbringen, nach Sparmöglichkeiten zu suchen und von ihnen zu profitieren, eher anstrengend. Aber natürlich leuchtet mir ein, dass es in diesem Krisenwinter sinnvoll ist, wenn die Deutschen möglichst wenig Strom und Gas verbrauchen. Und dass es richtig ist, Anreize dafür zu geben.
Heute schildern meine Kollegen Claus Hecking und Thomas Schulz die teils überraschenden Folgen der sogenannten Preisbremsen für Strom und Gas, die am 1. Januar in Kraft treten .
Die staatlichen Zahlungen könnten dafür sorgen, dass sowohl Energieversorger als auch Verbraucher von Tariferhöhungen profitieren, so die Kollegen. »So verrückt es klingt: Verbraucherinnen und Verbraucher können von der Teuerungswelle sogar finanziell profitieren. Je höher ihr persönlicher Tarif im kommenden Jahr ist, umso niedriger fällt ihre Strom- und Gasrechnung für 2023 aus – sofern sie kräftig Energie sparen.«
Die Preisbremse sorgt dafür, dass Haushalte für 80 Prozent ihres bisherigen Energieverbrauchs maximal 40 Cent je Kilowattstunde Strom und 12 Cent je Kilowattstunde Gas bezahlen müssen. Und damit die Menschen noch mehr Energie sparen, sollen sie für jede weitere eingesparte Kilowattstunde den vollen Tarif ihres Strom- und Gasanbieters erstattet bekommen. Je höher dieser Preis ist, desto mehr Geld bekommen sie zurück.
Ein Haushalt, der etwa seinen Stromkonsum von 5000 auf 2400 Kilowattstunden verringert, muss bei einem Tarif von 40 Cent je Kilowattstunde insgesamt 960 Euro bezahlen. Bei einem Tarif von 1 Euro je Kilowattstunde hingegen bekommt er die 2400 Kilowattstunden zum Nulltarif.
Menschen, die zum Beispiel 2023 lange verreisen oder ein Hallenbad besitzen, das sie im nächsten Jahr nicht länger beheizen, könnten vom Wechsel in teurere Tarife profitieren. Das seien »merkwürdige Anreizeffekte«, findet ein von den Kollegen zitierter Experte. Die Zeche zahlt der Staat.
Werden die Spar-Ziele der Politik am Ende erreicht werden? »Bei der Strom- und Gaspreisbremse subventioniert der Staat Haushalte mit besonders hohen Tarifen besonders stark, wenn diese viel Energie sparen«, sagt mein Kollege Claus Hecking. »Das kann Anbieter und Verbraucher dazu verlocken, extrem teure Verträge abzuschließen, weil beide Seiten davon profitieren – auch Kosten des Staates. Die Politik muss aufpassen, dass nicht Schindluder mit den Preisbremsen getrieben wird.«
2. Chinas Machthaber kritisieren die deutsche Politik gegenüber ihrem Land als »falsche Medizin« – und wollen womöglich die eigene Coronapolitik lockern
Das chinesische Außenministerium hat Strategiepapiere aus dem deutschen Außen- und dem Wirtschaftsministerium zum künftigen Umgang mit China kritisiert. Einige Teile der deutschen Regierung würden der Wirtschaft Chinas die »falsche Medizin« verschreiben, heißt es.
Die Medizin-Metapher ist einigermaßen kurios, weil das Land im Umgang mit der Corona-Pandemie das fragwürdige Medikament einer Null-Covid-Politik anwendet.
Die beiden vertraulichen Entwürfe der deutschen Ministerien empfehlen einen deutlich schärferen Kurs gegenüber Peking und wollen in China tätigen deutschen Firmen weniger oder teurere Investitions- und Exportgarantien geben. Das Papier des Außenministeriums sieht unter anderem vor, Investitionsgarantien einer »vertieften Prüfung« zu unterziehen – von Umweltkriterien bis hin zu Sozialstandards wie der Vermeidung von Zwangsarbeit in Lieferketten. Scharfe Sanktionen schließt das Papier nicht aus. Das Auswärtige Amt will ähnlich wie im Fall von Russland, Abhängigkeiten verringern.
In China selbst sind Ende November in mehreren Städten Tausende von Menschen auf die Straßen gegangen – aus Protest gegen die rigorosen Maßnahmen der Null-Covid-Politik, die aus wiederholten Lockdowns, Zwangsquarantänen, Massentests und ständiger Kontrolle über Corona-Apps besteht (hier mehr ). Die chinesischen Behörden haben auf die Proteste mit starker Polizeipräsenz und Onlinezensur reagiert. In Peking und Metropolen wie Shanghai wurden Passanten von Sicherheitskräfte angehalten und mussten ihre Handys zeigen, die auf verdächtige Inhalte untersucht wurden. Der Westen äußerte Besorgnis wegen des Vorgehens der chinesischen Behörden. Die Uno hat Peking aufgerufen, friedliche Protestierende nicht willkürlich festzunehmen.
Mittlerweile wurde bekannt, dass der harten Null-Covid-Politik in China schon bald die politisch-medizinische Grundlage entzogen werden könnte – indem die Behörden das Virus als weniger gefährlich einstufen. Weil das Virus schwächer werde, könnte Covid-19 womöglich bald nur noch als ernste, ansteckende Krankheit gewertet werden, meldet die staatliche chinesische Nachrichtenagentur Yicai.
»Das Argument erscheint mir fadenscheinig«, sagt meine Kollegin Julia Köppe aus unserem Wissenschaftsressort. Dass die Omikron-Variante in der Tendenz zu etwas weniger schwerwiegenden Verläufen führe, sei keinesfalls neu. »Die chinesische Regierung hätte sich auf Basis dieser Argumentation also schon viel früher zu Lockerungen entschließen können. Neu sind allerdings die Proteste im Land, die sich auch gegen die strikte Null-Covid-Strategie richten, die an ihre Grenzen kommt.« Epidemiologen fürchteten zudem, dass Omikron-Infektionen nur dann harmloser verlaufen, wenn es bereits einen breiten Schutz durch durchgemachte Infektion und Impfung in der Bevölkerung gibt. »Beides«, sagt Julia, »ist in China nicht der Fall.«
3. Auch bei der von vielen Menschen kritisierten Fußball-WM in Katar gibt es ein paar Sieger der Herzen
In Katar ist der 19-jährige Jude Bellingham ein überraschender Star der Fußballweltmeisterschaft. Der Spieler des englischen Nationalteams hat beim 3:0-Sieg gegen Senegal derart souverän gespielt, dass er auch in anderen Landesteilen von Großbritannien bejubelt wird – zumindest behauptet mein Kollege Jan Göbel in seinem Bellingham-Porträt: »Die ganze Insel ist verzaubert.«
Mein Kollege Felix Dachsel beschäftigt sich in seiner WM-Mini-Kolumne mit dem Achtelfinal-Aus der Polen; und unter anderem auch mit einem anderen jungen Superstar dieser WM, dem französischen Spieler Kylian Mbappé:
Ich habe die vergangene Woche viel Zeit mit netten Polinnen und wunderbaren Franzosen verbracht. Als ich gestern das Achtelfinale schaute, Frankreich gegen Polen, musste ich an sie denken. Wie ich mit den Polinnen über Malbork geredet hatte und mit den Franzosen über Macron.
Ich sah dort Lewandowski und Mbappé über den Platz rennen und wünschte mir plötzlich, dass beide Teams weiterkommen. Dieses Gefühl überkommt mich bei manchen Spielen, ganz selten nur. Der leise Wunsch, dass am Ende alle froh sind und niemand traurig.
Vielleicht sind das späte Folgen meiner Kindheit. Wir spielten zu Hause nicht Monopoly, sondern »Rettet den Teich«, ein kooperatives Würfelspiel von Ravensburger. Ziel des Spiels ist es, einen Teich gegen einen Investor zu schützen, der mit seinen Baggern anrollt. Gemeinsam würfelten wir den Investor aus dem Naturschutzgebiet. Am Ende freuten sich alle, niemand verlor. Ein Sieg für uns als Familie, aber insbesondere auch für die Frösche und Libellen.
Gestern jubelten die Franzosen, und die Polen vergruben ihre Gesichter. Es gibt die Freude eines Sieges nur neben Tränen der Niederlage. Das ist die übliche Brutalität des Sports. An diesem Abend wollte ich die Naturgesetze aushebeln, Frankreich und Polen hätten beide siegen sollen. Gegen den katarischen Investor mit seinen Baggern oder gegen Hui Bu, das WM-Maskottchen.
Aber das Leben ist kein kooperatives Würfelspiel von Ravensburger, das Leben ist eher Monopoly.
Und hier mehr Nachrichten und Hintergründe zur WM:
Nach bewaffnetem Einbruch bei seiner Familie – Sterling aus Katar abgereist: Mutmaßlich bewaffnete Einbrecher sind ins Haus von Raheem Sterling eingedrungen. Der englische Flügelspieler verließ deshalb die WM, um seiner Familie in London beizustehen. Ob er zurückkehrt, ist ungewiss.
Die Mannschaft, die Deutschland gern wäre: Effizient, souverän, mit bester Chemie zwischen Jung und Alt: Im Stile einer Spitzenmannschaft fertigte England den Senegal ab. Dem Afrikameister gehörten die Tribünen, auf England wartet nun Titelverteidiger Frankreich.
Wenger führt schlechte WM-Ergebnisse auf »politischen Protest« zurück: Wer sich politisch äußert, statt einfach Fußball zu spielen, dem fehle das »Mindset«, um erfolgreich in eine WM zu starten. Das sagt Fifa-Funktionär Arsène Wenger. Ganz aufgehen will die Logik des Ex-Trainers aber nicht.
Schöner Fußball? Unfug, nur der Erfolg zählt: Hinten stabil und vorne effektiv: Mit diesem einfachen Rezept haben sich die Niederlande fürs Viertelfinale qualifiziert. In der Heimat verdrehen sie die Augen, aber Bondscoach Louis van Gaal ist das egal.
»Messi rechnet nicht mehr mit dem Titel«: Am Abend kämpft Lionel Messi mit Argentinien um das WM-Viertelfinale. Hier spricht sein Biograf Guillem Balagué über Messis Titelhoffnung, wie er mit dem Altern umgeht – und wer nun der Größere ist: Messi oder Maradona .
Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:
Ukraine beklagt sexuelle Gewalt der Russen, Moskau soll Revanche für Ölpreisdeckel planen: Russlands Soldaten setzen laut Kiew Vergewaltigung gezielt als Waffe ein. Präsident Selenskyj schwört sein Volk auf einen schweren Winter ein. Und: Der Ölpreisdeckel kommt im Kreml gar nicht gut an. Die wichtigsten Entwicklungen.
Offenbar Tote und Verletzte bei Explosionen auf Militärflugplätzen in Russland: Russische Medien berichten über nahezu gleichzeitige Explosionen auf zwei russischen Armeeflughäfen – jeweils deutlich von der ukrainischen Grenze entfernt. Die Hintergründe sind unklar, der Kreml äußert sich nebulös.
Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update
Was heute sonst noch wichtig ist
Meine Lieblingsgeschichte heute:
Illustration: Sabine Israel / DE
Mein Kollege Anton Rainer schreibt in der Reihe »Menschen des Jahres« über Hanna Herbst, die Redaktionsleiterin des »ZDF Magazin Royale«. In der Reihe werden bis 24. Dezember Leute vorgestellt, die uns in diesem Jahr berührt, bewegt oder beschäftigt haben. Herbst hat Jan Böhmermann zu seinem Ruf als Aufdecker verholfen, indem sie unter anderem die dubiosen Maskengeschäfte des Influencers Fynn Kliemann enthüllte. »Humor, wie Jan Böhmermann ihn versteht, ist immer auch ein Spiel mit dem Feuer«, schreibt Anton.
Während andere Satiriker aus sicherer Entfernung das Bürgertum bespaßen, provoziere er mit kindlicher Begeisterung. Seit er beim ZDF und mit Herbst arbeite, sei Böhmermann als investigativer Aufdecker anerkannt, auch wenn nicht jede seiner Enthüllungen sich als Coup erweist. Die Redaktionsleiterin Herbst sei in Deutschland wenig bekannt, »aber so ziemlich jeder spricht über ihre Recherchen«, berichtet der Kollege. Herbst, 32, hat viele Jahre in Wien gelebt, ein Buch mit dem Titel »Feministin sagt man nicht« geschrieben und der Versuchung widerstanden, in der österreichischen Politik Karriere zu machen. Sie sagt: »Als Journalistin fühlt man sich wie eine Goldgräberin.«
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
»Sollte mir etwas passieren, weiß hoffentlich jeder, wer dahintersteckt«: Ein Richter, ein Polizist und ein Journalist flüchteten aus der Türkei nach Schweden, für Präsident Erdoğan gelten sie als Terroristen. Müssen sie wegen eines neuen Gesetzes die Auslieferung befürchten?
»Sechs Monate warten ist nicht nötig«: Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt, nach einer Fehlgeburt oder einer Abtreibung mindestens ein halbes Jahr bis zur nächsten Schwangerschaft zu warten. Forschende fordern nun, die Empfehlung zu ändern – aufgrund neuer Daten.
Warum Toyota den Prius aus der Versenkung holt: Der Toyota Prius polarisiert: Manche lieben den Ökovorreiter, eine US-Abgeordnete jagte ihn in die Luft. Der Kulturkampf um den Wagen könnte nun in die nächste Runde gehen – er bekommt eine neue Chance.
Was heute weniger wichtig ist
Superwoman im Weißen Haus: Gladys Knight, 78, wunderbar coole Soulsängerin, war mit ein paar anderen Showmenschen zu Gast beim US-amerikanischen Präsidenten. Gemeinsam mit der Kollegin Amy Grant, 62, Musikern der Band U2 und dem Schauspieler George Clooney, 61, wurde sie von Präsident Joe Biden, 80, empfangen. Die Künstlerinnen und Künstler erhielten Auszeichnungen für ihr Lebenswerk. In einem ihrer Hits singt Gladys Knight »I’m not (your) Superwoman.« Fans wie ich halten das Gegenteil für richtig. Biden formulierte seine Begeisterung ein bisschen hüftsteif: »Heute Abend feiern wir eine wirklich außergewöhnliche Gruppe von Künstlern.«
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »Von der Ukraine gespendetes Weizen für Äthiopien erreicht Afrika.«
Cartoon des Tages: Sittenpolizei
Illustration: Klaus Stuttmann
Und heute Abend?
Könnten Sie sich die Serie »Der Patient« ansehen. In dem Zehnteiler, der bei Disney+ zu sehen ist, spielt der Schauspieler Steve Carell einen Psychotherapeuten. Der Held wird von einem seiner Patienten entführt. Der Patient ist offensichtlich ein Serienkiller und sucht ausgesprochen zwanghaft das Therapiegespräch. »Die Gemeinheit ist das Vorrecht des zivilisierten Menschen«, hat Sigmund Freud einmal geschrieben. Wirklich spannend und überraschend sei die Serie allerdings, schreibt mein Kollege Oliver Kaever, weil sie weniger von der Niedertracht des Entführers als von der Identitätssuche des Entführten handle. Gerade wegen Carells außergewöhnlicher Schauspielkunst sei die Serie, findet Oliver, »ein Meisterwerk«.
Einen schönen Abend. Herzlich
Ihr Wolfgang Höbel