Die Kneipe, vor der Horst Schimanski erstmals „Scheiße“ brüllte, ist schon seit Jahren geschlossen. In der „Bierquelle“ trank, sang und flirtete einst der von Götz George gespielte Tatort-Kommissar. Genau davor, an der Fürst-Bismarck-Straße, steht nun Dagmar Dahmen. Hier in Duisburg-Ruhrort kennt sie jeden Quadratzentimeter – und die dazugehörigen Geschichten. Dahmen bietet Führungen zu Schimanski-Drehorten an. Sie deutet auf eine Fassade mit braunem Schiefer. „Aus dem Fenster im zweiten Stock hat Zottel damals den Fernseher auf die Straße geworfen“, sagt Dahmen. Diese Szene aus dem Tatort „Duisburg-Ruhrort“ ist ein Stück deutscher Fernsehgeschichte. Schimanskis über die Straße gefluchter Kraftausdruck gehört auch dazu.
Die ARD feiert den 50. Geburtstag ihrer Krimiserie. Zu solchen Jubiläen gehören auch die Diskussionen darüber, welche Tatort-Ermittler die besten waren. Sogar die Meinungsforscher haben sich schon damit beschäftigt. Im Jahr 2008 landeten bei einer Emnid-Umfrage Horst Schimanski und sein Kollege Christian Thanner auf Platz eins. Dagmar Dahmen wundert das nicht. Auch sie mag die Krimis aus Duisburg, selbst bei der vierten oder fünften Wiederholung verspüre sie keine Langeweile.
Dahmen wuchs im niederrheinischen Ort Büderich auf – rund 30 Autominuten von Ruhrort entfernt. Als Journalistin arbeitete sie später in Duisburg. Dort kam Dahmen auch mit Schimanski näher in Berührung. Es war im Jahr 2011, also 30 Jahre nach dem ersten Duisburger Tatort, als sie für einen WDR-Beitrag zum Ruhrorter Neumarkt fuhr. Sie sprach mit Anwohnern – über Schimanski und Ruhrort. Viele schwärmten von den guten, alten Zeiten, als noch Matrosen durch die Straßen liefen und der Stadtteil als der reichste in Duisburg galt. Dann kam der Niedergang von Kohle und Stahl. Und ein Kneipensterben setzte ein. In der Nachkriegszeit gab es noch mehr als hundert Gaststätten. „Jetzt sind wir gerade mal bei zehn“, sagt Dahmen. „Und da sind die Pommesbuden schon mitgezählt.“
Die Lage am Wasser und ein paar schöne alte Häuser sind dem Stadtteil geblieben. Und der Schimmi-Mythos. Der begeisterte auch Dahmen. Und so kam sie auf die Idee, Schimanski-Touren durch Ruhrort anzubieten. Sie gründete die Firma „DU Tours“ und zog im März 2012 das erste Mal los. Seitdem haben sie und ihre Kollegen rund 14.000 Gäste über das Ruhrorter Kopfsteinpflaster geführt. Sogar Touristen aus Österreich und den Niederlanden waren darunter. 25 Euro kostet eine Führung – ein Currywurst-Imbiss ist im Preis enthalten. Aktuell gebe es eine coronabedingte Pause, sagt Dahmen.
Götz George im Supermarkt
Abgenutzt habe sich das Format noch nicht. „Die Teilnehmer bringen sich oft ein und erzählen ihre eigenen Schimmi-Anekdoten“, sagt Dahmen. Manche berichten von Begegnungen mit Götz George im Supermarkt, andere davon, dass sie schon als Statist im Krimi mitgewirkt haben. „Da meldet sich schon mal jemand und sagt, dass er mal eine Wasserleiche im Tatort war“, sagt Dahmen.
Ein paar Schritte von der ehemaligen „Bierquelle“ entfernt trifft die 56-Jährige auf Johannes Heggen. Der Ruhrorter führt auf der Fürst-Bismarck-Straße ein Bestattungsinstitut. Seine Außenwerbung kennen die Schimanski-Fans. Als dieser gewisse Zottel vor laufender Kamera ausflippte, war Sekunden vorher das Firmenemblem des Familienunternehmens zu sehen. Johannes Heggen kommt sofort ins Plaudern. „Die Wohnung, aus der der Fernseher geflogen kam, gehörte meinen Eltern“, sagt er. Heggen verfolgte damals die Dreharbeiten und weiß noch, dass Zottel mehrere Versuche brauchte. „Erst beim dritten Fernseher war die Szene fertig“, sagt der Bestatter.
Von solchen Erzählungen zehrt Dagmar Dahmen. Immer neue Details aus der Schimanski-Zeit trügen die Ruhrorter zusammen. Sie weiß mittlerweile auch, wo Lilo gewohnt hat. Ein Schreiner hatte ihr den Tipp gegeben. In der Auftaktfolge vom 28. Juni 1981 landet Schimanski mit Wirtin Lilo aus der Gaststätte „Zum Anker“ im Bett. Als der Kriminalhauptkommissar morgens aufsteht, sieht er vom Fenster die riesigen Hafenkräne auf der Mercatorinsel. Diesen Ausblick kann der aktuelle Besitzer der Wohnung an der Dammstraße nicht mehr genießen. Die Kräne stehen nicht mehr. Strukturwandel.
Die Wohnung in Wanheim
Als vor gut sieben Jahren die Idee aufkam, dem berühmten Kriminalhauptkommissar eine Straße zu widmen, gab es große Unterstützung aus der Bevölkerung. Ein 30 Meter kurzer, bislang namenloser Weg wurde dafür ausgesucht. Dort war Horst Schimanski in der Folge „Freunde“ in Deckung gegangen.
Zunächst war der Name „Schimmi-Gasse“ im Gespräch. Doch da der frühere Fußball-Nationalspieler Horst Szymaniak den gleichen Spitznamen hatte, bestand Verwechslungsgefahr. So wurde „Horst-Schimanski-Gasse“ zum Favoriten. „Dann kam die Ansage der Behörden, dass Straßen nicht nach fiktiven Figuren benannt werden dürfen“, erzählt Dahmen. „Dabei gibt es in Deutschland doch auch die Dornröschen-Gasse.“ Dass auch noch eine Filmfirma die Rechte am Namen Schimanski besaß, machte es noch komplizierter.
Am Ende klappt es doch. 2014 folgte eine Einweihung ohne Tamtam. Morgens montierten Mitarbeiter der Stadt zwei Straßenschilder mit der Aufschrift „Horst-Schimanski-Gasse“ – das war es. Dahmen hätte sich einen festlichen Akt gewünscht mit Regisseur Hajo Gies und natürlich mit dem Hauptdarsteller. „Ich habe aber gehört, dass sich Götz George über die Straßenbenennung sehr gefreut hat“, erzählt sie.
Götz George, der 2016 gestorben ist, spielte den Schimanski in 29 Tatort-Folgen. Von 1997 bis 2013 lief dann noch die Serie „Schimanski“, die aus 17 Filmen bestand. Und als der letzte Fall abgedreht war, schien der Polizist weiterhin in Ruhrort präsent zu sein. Wer mit Dahmen durch die Straßen zieht, hat das Gefühl, jeden Moment könnte ein silberfarbener Citroën CX um die Ecke biegen und ein Mann mit beige-grauer Feldjacke aussteigen.
Dahmen kann bei ihren Touren selbstverständlich nicht alle Schauplätze ansteuern. Viele Drehorte befinden sich in Köln oder in München. Und auch die allererste Tatort-Szene aus Schimanskis Wohnung stammt nicht aus dem Duisburger Norden. Lange wurde diese Wohnung in Ruhrort vermutet – bis sich herausstellte: Die Szene wurde zehn Kilometer weiter südlich in einem Plattenbau im Duisburger Stadtteil Wanheim gedreht. Hätte Schimanski von dort zur „Bierquelle“ laufen müssen, hätte er zwei Stunden gebraucht.
Quelle: Welt am Sonntag