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Angst vor Lohn-Preis-Spirale: Heizt der Megastreik die Inflation an?

Angesichts explodierender Preise fordern Gewerkschaften flächendeckend mehr Geld für die Beschäftigten. Manche Ökonomen fürchten: So kommt ein Teufelskreis in Gang, der das Wachstum abwürgen und die Wirtschaft lähmen könnte.

Nichts geht mehr: Mit ihrem Warnstreik im Verkehrssektor haben die Gewerkschaften Verdi und EVG weite Teile des öffentlichen Lebens in ganz Deutschland lahmgelegt. Die Deutsche Bahn hat den Fernverkehr eingestellt, in sieben Bundesländern fahren keine Regionalzüge, viele Flughäfen sind dicht. Mit dem Megastreik in der Verkehrsbranche gesellt sich zum Frust für Millionen Pendler und Reisende eine bittere Gewissheit: Die Inflation verfestigt sich und könnte zum Dauerproblem werden.

Stillstehende Bahnen, Busse und Flugzeuge sind ein sichtbares Zeichen, dass wegen der steigenden Preise womöglich bald eine Welle hoher Tarifabschlüsse durch das Land rollt. 7,9 Prozent betrug die Inflation im vergangenen Jahr laut statistischem Bundesamt. Und um die dadurch verlorengegangene Kaufkraft ihrer Beschäftigten zurückzuholen, fordern Gewerkschaften nun flächendeckend deutlich mehr Geld.

In den Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen, bei denen Verdi und EVG mit dem heutigen Verkehrsstreik Druck machen wollen, wollen die Gewerkschaften 10,5 Prozent oder mindestens 500 Euro mehr für die Beschäftigten herausholen. Die Deutsche Post hat einem Großteil ihrer Beschäftigten laut Verdi Lohnsteigerungen von bis zu 16,1 Prozent in Aussicht gestellt; bis Ende März läuft die Urabstimmung über das Angebot. Für die Beschäftigten der Papier, Pappe und Kunststoff verarbeitenden Industrie, der Energiewirtschaft sowie Banken und Versicherungen verhandelt Verdi derzeit. Auch im Handel startet bald die neue Tarifrunde. Und bei Lufthansa (über 5 Prozent), Condor (7 bis 9 Prozent), den Seehäfen (9,4 Prozent) und DHL (8,6 Prozent) hatte Verdi schon im vergangenen Jahr deutliche Lohnzuschläge durchgesetzt.

Preisdruck aus dem Gewerkschaftshaus

So unproblematisch wie diese Aufholeffekte in Zeiten moderater Preisanstiege in den vergangenen Jahren waren, so gefährlich können sie bei explodierender Inflation werden. Denn dann wächst das Risiko, dass sich galoppierende Preise und Löhne gegenseitig immer weiter hochschaukeln, bis es zu einer unkontrollierbaren Lohn-Preis-Spirale kommt. Die Gefahr besteht vor allem dann, wenn die Gewerkschaften aus Angst vor noch kommenden Preiserhöhungen überziehen und die Lohnforderungen die tatsächliche Inflation übersteigen.

Empirisch ist dieser Teufelskreis schwer nachzuweisen, daher gehen die Einschätzungen der Experten weit auseinander. DIW-Chef Marcel Fratzscher hält ihn für einen "Mythos". Der Wirtschaftsweise Martin Werding von der Ruhr-Universität Bochum räumt zwar ein, dass "die Inflation zunehmend in der Breite der Wirtschaft ankommt". Aber: "Eine Spirale wird bisher nach unserer Einschätzung daraus nicht". EZB-Chefin Christine Lagarde sieht ebenfalls noch keine Lohn-Preis-Spirale. Doch die Währungshüter rechnen in den nächsten Quartalen mit einem Lohnwachstum, das im historischen Vergleich sehr stark ausfällt.

Bundesbank-Chef Joachim Nagel macht sich dagegen Sorgen, dass die gefürchtete Lohn-Preis-Spirale bereits eingesetzt haben haben könnte und warnt, dass "die derzeit in Deutschland erzielten Lohnabschlüsse insgesamt nicht mit der mittelfristigen Preisstabilität im Euroraum vereinbar" sind. Zudem sieht er "Anzeichen für Zweitrundeneffekte von inflationsbedingten höheren Lohnsteigerungen auf die Preise" - also Hinweise darauf, dass sich Löhne und Preise bereits gegenseitig anheizen. Und Hagen Lesch vom arbeitgebernahen Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) drängt die Tarifparteien gar darauf, "einer Lohn-Preis-Spirale konzertiert entgegenzuwirken."

Ein politischer Kampfbegriff

Brisant ist die aktuelle Situation auch deshalb, weil strukturelle Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt die Macht der Gewerkschaften stärken und so das Entstehen einer Lohn-Preis-Spirale begünstigen könnten. "Die Zeiten eines Arbeitgebermarktes, in dem Arbeitgeberlöhne und Arbeitsbedingungen mehr oder weniger diktieren konnten, scheinen vorbei", sagt DIW-Chef Fratzscher. Bereits heute gebe es in Deutschland zwei Millionen offene Stellen und eine riesige Fachkräftelücke, die sich in den kommenden zehn Jahren noch vergrößern werde. Ich erwarte für die kommenden Jahre eine deutliche Zunahme der Arbeitskämpfe in Deutschland."

In diesen Tarifkonflikten wird die Lohn-Preis-Spirale zum politischen Kampfbegriff. Mit der Angst vor von Gewerkschaften ausgelöster Hyperinflation versuchen die Arbeitgeber, die Legitimität der Lohnforderungen anzugreifen: "Wir werden das spüren, wenn der Tarifabschluss zu hoch ist", sagt BDA-Hauptgeschäftsführer Steffen Kampeter. "Keiner wird aus diesem Streik ungeschoren hervorgehen". Und die Gewerkschaften versuchen, das Risiko herunterzuspielen: "Wenn ich all unsere Forderungen zusammen nehme, dann verlangen wir weniger als die tatsächliche Inflation. Hier von einer Lohn-Preis-Spirale zu reden, ist Unfug", sagt verdi-Chef Frank Werneke. Viele Arbeitgeber würden "das Märchen von der Lohn-Preis-Spirale" nur erzählen, um sich aus ihrer Verantwortung zu stehlen, heißt es bei Verdi.

Fakt ist, dass es reichlich Nachholbedarf gibt: Im vergangenen Jahr sind die Tariflöhne mit 2,2 Prozent deutlich langsamer gestiegen als die Verbraucherpreise. Die Wirtschaftsweisen rechnen zwar damit, dass die Inflation zurückgeht, aber auch in diesem Jahr im Schnitt noch bei 6,6 Prozent liegen wird. Erst 2024 soll sie spürbar auf 3 Prozent sinken. Eine unkontrollierbare Hyperinflation steht derzeit also wohl noch nicht an.