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Auf der Spur der Steine

Die Sonne kommt heraus, an diesem Spätsommertag. Wolken ziehen über den Himmel. Der jüdische Friedhof von Schwanfeld liegt im hellen Licht, in malerischer Hanglage oberhalb des ältesten Dorfs Deutschlands. Seit der Barockzeit wurden hier jüdische Bewohner der umliegenden Dörfer beigesetzt, aus Bibergau, Dettelbach, Gochsheim, Rimpar, Schwebheim, Theilheim, Untereisenheim, Zeilitzheim und Estenfeld. 1939 endete diese Jahrhunderte alte Tradition. Wenig später wurden die verbliebenen Gemeinden israelitischen Glaubens durch die Nazi-Diktatur ausgelöscht. 

Über 2000 Grabsteine reihen sich zwischen Bäumen, viele sind verwittert oder umgestürzt und dürfen nicht mehr bewegt werden. Das Grab und seine Erde gehören gemäß der religiösen Tradition dem Toten selbst, der an einem "guten Ort" auf das ewige Leben wartet. Wichtiger als die Unversehrtheit der letzten Ruhestätte ist nur das Andenken selbst.

Nun gab es eine kleine Sensation in Sachen Ahnenforschung: Bei einem Besuch der israelischen Familie Azrieli in Unterfranken wurde überraschend das verschollene Grab ihres Vorfahren Hirsch Steinhardt wiederentdeckt, unter Mithilfe von Jochen Jörg. Der Würzburger Main-Post-Redakteur beschäftigt sich in seinem Heimatort Estenfeld mit der Ortsgeschichte. Besonders intensiv hat er sich mit den Lebenswegen und Schicksalen der früheren jüdischen Mitbürger befasst.

Nur das Sterbedatum war bekannt

Eran Azrieli war zusammen mit Mutter Edna auf Spurensuche in Alzenau, Gerolzhofen, Estenfeld – und eben Schwanfeld. Die Ehefrau von Hirsch Steinhardt ist dort nachweislich beerdigt, im hinteren, etwas höher gelegenen Teil des Friedhofs: "Ich wollte ihnen zumindest das Grab ihrer Urgroßmutter beziehungsweise Ururgroßmutter Karolina zeigen", sagt Jochen Jörg. Die Hoffnung war, dort irgendeinen Anhaltspunkt finden, wo Karolinas Mann begraben sein könnte.

Edna Azrieli ist die Tochter des deutsch-jüdischen Emigranten Kurt Rothschild, der aus Gerolzhofen stammt, sie wurde nach dem Krieg in Palästina geboren. Kurt Rothschild war mütterlicherseits ein Enkel von Hirsch Steinhardt. Mehrere Familienangehörige kamen im Holocaust ums Leben.

Zvi Ben Meir, wie Hirsch Steinhardt im hebräischen Teil der Inschrift genannt wird, stammt aus dem Würzburger Vorort Estenfeld. Dort war er Inhaber einer Getreidehandlung, die sich an der Durchgangsstraße befand, Ecke Würzburger und Maidbronner Straße. "So gut seine Geschäfte auch gingen – privat hatte Hirsch Steinhardt zahlreiche Schicksalsschläge zu verkraften", erzählt Jochen Jörg. Seine ersten zwei Ehefrauen starben jung, beide jeweils kurz nach der Geburt eines Kindes. Außerdem verlor er drei seiner sieben Kinder schon sehr früh. 1913 starb seine dritte Ehefrau Karolina und wurde, wie für jüdische Estenfelder üblich, auf dem Schwanfelder Friedhof beigesetzt. Ihr Grabmal ist gut erhalten. Von Zvi oder Hirsch Steinhardt, benannt nach dem Symboltier eines der Stämme Israels, stand nur das Sterbedatum sicher fest, der 19. Juli 1918.

Grabstein war mit Moos und Gras überwuchert

Bekannt ist, dass in Schwanfeld die Verstorbenen häufig nach dem Zeitpunkt ihres Ablebens bestattet wurden, meist in einer Reihe. "Gemeinsam versuchten Eran, Edna und ich nun, das Rätsel um das Grab von Hirsch Steinhardt zu lösen", erzählt Jochen Jörg. "Die meisten Steine konnten wir ausschließen. Am Ende unserer Suche gelangten wir zu einem Grabmal, bei dem nur noch der Sockel vorhanden war. Zu erkennen war darauf nichts mehr", berichtet der Geschichtsforscher. Chronologisch passte der Fundort, unterhalb des Sockels lag ein Grabstein. Er war überwuchert mit Moos, Gras und Flechten und halb in der Erde eingesunken. Selbst wenn es gestattet gewesen wäre, die Platte zu bewegen, sie war dafür schlicht zu schwer.

Schwanfelds Altbürgermeister Richard Köth hatte die Besucher über den Friedhof geführt. Nun sorgte er für schnelle Hilfe. Ein oder zwei Anrufe beim Landesverband der Israelitischen Kultusgemeinde in München genügten: Joino Pollak, zuständig für die Friedhofsbetreuung, gab die Erlaubnis, den Stein zu heben. Hirsch Steinhardt soll ein würdiges Andenken erfahren.

Das war am Freitagvormittag. Mit der Dämmerung nahte der Sabbat, der bis zum Samstagabend dauern würde – tabu für den Besuch eines jüdischen Friedhofs. Spontan sprangen Doris Neuhoff und die Mitarbeiter des Schwanfelder Natursteinwerks Neuhoff ein, völlig unentgeltlich. Am Freitagmittag stemmten Harald Brach und Alfred Lischzina den Grabstein hoch. Richard Köth gab per Whatsapp die Erfolgsnachricht durch: "Herr Jörg, ich bin sprachlos."

Zum Vorschein gekommen war eine schwarze Tafel mit der Aufschrift "Hier ruht Herr Hirsch Steinhardt von Estenfeld". Richard Köth schickte Fotos. Es gab einen zweiten Besuch der Azrielis am "guten Ort". Nach jüdischer Sitte wurde ein kleiner Stein aufs Grab gelegt. Eran Azrieli, der in der Nähe von Jerusalem lebt, bedankte sich überschwänglich für die unbürokratische Hilfe. Die Erinnerung an Schwanfeld wird für ihn und seine Mutter unvergesslich bleiben. Das Grab soll nun gesichert werden.