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Banküberfälle im Libanon: "Sie sind gezwungen, ihr eigenes Geld zu stehlen"

Anfang des Jahres betritt Abdullah Al-Saii eine Bank in der libanesischen Hauptstadt Beirut. Mit dabei hat er eine Pistole und einen Benzinkanister. Er will 50.000 Dollar und droht, die Filiale in Brand zu setzen, wenn er das Geld nicht bekommt. Das Ungewöhnliche daran: Er fordert sein eigenes Geld. Im Interview mit ntv.de spricht sein Anwalt Ayman Raab darüber, was seinen Mandanten zu dieser drastischen Maßnahme getrieben hat - und warum sich immer mehr Menschen dazu gezwungen fühlen.

ntv.de: Sie vertreten Abdullah Al-Saii, der sein eigenes Geld aus der Bank geraubt hat. Seitdem hat es sechs weitere Banküberfälle gegeben. Haben Sie erwartet, dass sich so viele ein Beispiel an Ihrem Mandanten nehmen würden?

Ayman Raab: Wir haben das schon vor einer Weile kommen sehen. Die Banken und das gesamte politische System rauben uns aus. Die Justiz verhilft den Menschen auch nicht zu ihren Rechten. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis die Menschen das Gesetz selbst in die Hand nehmen. Sie sind gezwungen, ihr eigenes Geld zu stehlen.

Was meinen Sie damit, dass die Banken die Menschen ausrauben?

Im Libanon werden wir von einer Oligarchie regiert. Dazu gehören die Politiker, die Justiz, die Armee, aber auch die Banken. Jahrelang haben sie unser Geld in die libanesische Regierung investiert, weil sie dafür hohe Renditen bekamen - manchmal bis zu 40 Prozent. Dabei wussten sie, dass die herrschende Klasse dieses Geld nutzte, um sich und ihre Familien zu bereichern. Die Banken trugen ihren Teil dazu bei, indem sie die Menschen davon überzeugten, ihr Geld zu höheren als den üblichen Zinssätzen in dieses System zu investieren - bis zu 15 Prozent erhielten sie. Seit 2009 wusste jeder, dass dieses System zusammenbrechen würde. Aber trotzdem haben die Bankangestellten unser Geld weiter auf diese Weise angelegt. Und jetzt ist nichts mehr übrig.

Im Netz werden die Überfälle von Libanesen und Libanesinnen gefeiert. Gibt es jemanden, der diese Überfälle kritisiert?

Es gibt schon Leute, die das als ungerecht empfinden. Das trifft bis zu einem gewissen Grad zu. Denn das Gesamtvolumen der Bankkonten im Libanon beläuft sich auf etwa 120 Milliarden Dollar. Aber im Moment hat der Libanon nur noch etwa 3 bis 4 Milliarden Dollar zur Verfügung. Wenn also eine Person 50.000 Dollar erhält, wird dies einer anderen Person weggenommen.

Was ist mit den Bankangestellten, die auf der anderen Seite des Schalters stehen und auf die eine Waffe gerichtet wird? Sind sie nicht genauso von der Krise betroffen?

Die Banker sind diejenigen, die unser Geld falsch angelegt haben. Sie haben unser ganzes Geld auf eine Karte gesetzt. Das ist das Einmaleins des Bankwesens: Streue dein Portfolio. Und das haben sie nicht getan, weil sie so viel Geld mit den riesigen Renditen aus den Investitionen der Regierung verdient haben. Wir sprechen hier von Milliarden von Dollar pro Jahr. Man kann nicht als Türsteher vor einem Puff arbeiten und sagen, es ist mir egal, was da drinnen passiert.

Hat Abdullah das Risiko miteinkalkuliert, aus Versehen jemanden zu verletzen?

Natürlich können Unfälle passieren. Aber er hatte keine andere Wahl, als diesen Schritt zu gehen. Er wollte niemanden verletzen, aber er ging das Risiko ein, ins Gefängnis zu kommen und vielleicht sogar das Risiko, jemanden versehentlich zu verletzen.

Wenn er im Gefängnis sitzt, was nützt ihm das Geld?

Er hat das Geld nicht für sich genommen, sondern für seine Familie. Er hat 20 Jahre lang gearbeitet, um dieses Geld anzusparen, und jetzt verweigert ihm die Bank sein Geld. Selbst wenn er noch weitere 20 Jahre arbeitet, würde er nie wieder so viel Geld verdienen können. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sein eigenes Geld zu stehlen und es seiner Familie zu geben - auch wenn das bedeutet, dass er im Gefängnis sitzt.

Befindet sich nicht jeder im Libanon in der gleichen Situation wie Abdullah Al-Saii? Trotzdem greift nicht jeder zu dieser drastischen Maßnahme.

Verzweiflung macht so etwas mit einem Menschen. Im Libanon ist jeder verzweifelt. Aber die Leute, die in die Banken gehen, haben eine Notlage. Niemand würde sein Leben für 10.000 Dollar riskieren, wenn er auch ohne durchkommt. Aber glauben Sie mir, wenn mein Kind oder meine Mutter krank wäre, würde ich auch zu diesen drastischen Maßnahmen greifen.

Wie haben Sie von diesem Fall erfahren - waren Sie schon vor dem Raubüberfall involviert?

Nein, wir hatten keine Ahnung, dass jemand diese Raubüberfälle plante. Als Abdullah verhaftet wurde, wurde ich angerufen, weil ich der "Pro Bono Lawyers Association for Defending Protesters" angehöre. Wir haben während der Revolution im Jahr 2019 mit der Verteidigung von Demonstranten begonnen, und für mich sind diese Raubüberfälle ein Teil der Revolution. Auch wenn sie nicht auf der Straße protestieren, ist es immer noch eine Art revolutionärer Akt.

Was ist Ihr Ziel als Anwalt in diesem Fall?

Wir helfen Menschen wie Abdullah dabei, ihr Recht auf einen Prozess zu bekommen. Denn im libanesischen Recht gibt es einen Straftatbestand, der sich "Selbstjustiz" nennt, also wenn man die Justiz selbst in die Hand nimmt. Dabei handelt es sich um ein leichtes Verbrechen, das mit einer geringen Geldstrafe oder maximal zwei Jahren Gefängnis geahndet wird. Wenn wir diese Leute allein lassen, wird die Oligarchie sie wegen Raubes oder bewaffneten Angriffs anklagen, was sie nicht tun. Es handelt sich nicht um einen Raubüberfall. Er hat keine Leute als Geiseln genommen. Er hat einfach sein Recht in die eigenen Hände genommen. Genauso wie wir die Menschen unterstützt haben, die auf der Straße im Rahmen der Meinungsfreiheit protestiert haben, unterstützen wir die Menschen, die das Recht in ihre eigenen Hände nehmen.

Akzeptiert die Justiz diese Argumente?

Der Generalstaatsanwalt hat sein Bestes gegeben, um bewaffneten Überfall und Raub zu fordern. Dank der enormen Anstrengungen, die wir als Anwälte unternommen haben, ist es ihm aber nicht gelungen. In allen bisherigen Fällen hält sich die Staatsanwaltschaft an das Gesetz und klagt die Verdächtigen wegen "Selbstjustiz" an.

Versucht die Staatsanwaltschaft, an diesen Fällen ein Beispiel zu statuieren und fordert die Höchststrafe?

Wie ich das Justizsystem im Libanon kenne, wird es Jahre dauern, bis sie eine Entscheidung treffen. Es wird also zu spät sein, um ein Beispiel daraus zu machen.

Was soll jetzt daraus folgen?

Die Lösung besteht nicht darin, dass jeder zur Bank geht und sein Geld einfordert. Aber diese Banküberfälle sollten als ein Warnsignal für die herrschende Oligarchie verstanden werden. Es muss dazu führen, dass der Internationale Währungsfonds kommt und sagt: "Ihr steht vor einem riesigen Abgrund, lasst uns reden und versuchen, eine Lösung zu finden." Wir befinden uns seit drei Jahren in der schlimmsten Wirtschaftskrise, die man sich vorstellen kann. Und niemand unternimmt etwas. Hoffentlich ändert sich das jetzt.

Mit Ayman Raab sprach Clara Suchy