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Buch "Botschaft aus der Ukraine": Selenskyjs Reden halten Westen den Spiegel vor

Als ehemaliger Schauspieler und Drehbuchautor ist Selenskyj ein Meister der Worte. Für seine Reden, die oft harsch und unkonventionell sind, interessiert sich die ganze Welt. Lange Zeit sah das jedoch ganz anders aus, wie in seinem ersten Buch deutlich wird.

Wäre der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj vergangene Woche bei "Markus Lanz" auf Tino Chrupalla getroffen, hätte er ihm vermutlich einfach sein neues Buch in die Hand gedrückt. In der Diskussion um Unterstützung für die Ukraine klammerte sich der AfD-Chef an die These, der russische Kampf gegen die Ukraine "ist nicht unser Krieg". Es ist eine Annahme, die seit Kriegsbeginn - seit die Welt hektisch über Konsequenzen diskutiert - immer wieder aufploppt - in politischen Reden, in offenen Briefen oder auf Demonstrationen. Und es ist exakt das Gegenteil von Selenskyjs Botschaft: "Dieser Krieg richtet sich nicht nur gegen die Ukraine, sondern gegen Europa."

Mal verpackt in eine Geschichte, meistens aber ganz direkt betont der Präsident es bei fast jeder Gelegenheit. Nicht erst seit dem 24. Februar dieses Jahres, sondern seit er 2019 zum Präsidenten gewählt wurde. Nun hat er zwölf seiner Reden für sein erstes Buch "Botschaft aus der Ukraine" ausgewählt. Das erste Werk des ukrainischen Präsidenten ist damit der gedruckte, mittlerweile dreijährige Versuch der Ukraine, dem Westen zu erklären, warum der Kampf gegen Russland auch sein Krieg ist.

So verkündete Selenskyj in seiner Antrittsrede im April 2019: "Wir haben einen Weg gewählt, der nach Europa führt." Eine "neue Ära" nannte er dies: Europa statt Russland, Demokratie statt Autokratie und ein Leben, das "ohne Freiheit gar kein Leben ist". Die Ukraine ist Teil Europas und das nicht nur geografisch - diesen neuen Wertekanon machte der Präsident auch international bei jeder Gelegenheit deutlich. Ebenso wie seine Feststellung, dass Russland genau dies ein Dorn im Auge ist.

Europäisches Schweigen

Allerdings stieß Selenskyj damit lange Zeit auf taube Ohren. In seiner Eröffnungsrede vor der UN-Generalversammlung erinnerte der ukrainische Präsident im Herbst desselben Jahres an den Krieg im Donbass, der bereits 13.000 ukrainische Todesopfer forderte und warnte: "Es wäre fatal zu glauben, die Situation in unserem Land ginge Sie nichts an und würde sich niemals auf Sie auswirken." Der ukrainische Präsident forderte Unterstützung, bewirkte jedoch wenig. Wie wenig, brachte er rund zweieinhalb Jahre später auf der Münchner Sicherheitskonferenz zur Sprache. Moskau hatte zu diesem Zeitpunkt bereits Hunderttausende Soldaten und Dutzende Panzerkolonnen an der Grenze zur Ukraine zusammengezogen. "Wie konnte es so weit kommen?", fragte Selenskyj die Delegierten und kritisierte die "Appeasement-Politik" der Anwesenden. Seit mittlerweile acht Jahren diene die Ukraine "der Welt als verlässliches Schutzschild", sagte er. "Wird es der Welt gelingen, mich 2022 zu hören?"

Es gelang - wenn auch zu spät. Als russische Panzer am 24. Februar über die ukrainische Grenze rollten, hörten Millionen Menschen Selenskyjs Appell: "Wenn Bomben auf Kiew fallen, fallen sie auf Europa. Wenn Raketen Ukrainer töten, töten sie Europäer. Mehr Schutz für die Ukraine bedeutet mehr Schutz für Europa und mehr Schutz für die demokratische Welt."

Über Nacht wurde er zum gefragtesten Redner der Welt. 81 Mal wandte er sich in den ersten 200 Kriegstagen an ausländisches Publikum, er sprach in den Parlamenten der Welt, bei den Filmfestspielen in Cannes, beim Wirtschaftsforum in Davos und beim Klimagipfel in Scharm el-Scheich. Immer zog er Parallelen zum Krieg, immer appellierte er an die Solidarität der Zuhörer. Was bis zum Februar dieses Jahres aussichtslos schien, hatte nun Erfolg: Die Ukraine gewinnt die Deutungshoheit über diesen Krieg und Selenskyjs Reden beeinflussten den Verlauf des Krieges, wie Experten annehmen. "Dafür, dass die Ukrainer in diesem Krieg überhaupt eine Chance hatten, spielt die Rhetorik eine entscheidende Rolle", sagte etwa der Tübinger Rhetorikprofessor Olaf Kramer in der "Süddeutschen Zeitung".

Meister der Worte

Als ehemaliger Drehbuchautor und Schauspieler weiß Selenskyj mit Rhetorik umzugehen. Er hat ein Gespür für Timing, passt sich seinem Publikum an und berichtet von den Menschen, von einzelnen Schicksalen im Krieg wie einem ukrainischen Opernsänger, der im Donbass getötet wurde. Selenskyj trägt den Krieg so nah wie möglich an seine Zuhörer heran und spricht ins Gewissen. Gleichzeitig wird Selenskyjs Auftritt zum Symbol des Krieges: Das olivgrüne T-Shirt und die zur Faust geballte Hand auf Kopfhöhe - "Slava Ukraini".

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Auch nach knapp zehn Monaten des Krieges hat sich an diesem Konzept kaum etwas verändert. Und doch gibt es einen Unterschied: Die Ukraine kämpft nicht mehr nur gegen Russland, sondern auch gegen die Gewohnheit des Krieges. Im Vorwort seines Buches spricht Selenskyj es direkt an: "Vergessen Sie die Ukraine nicht. Werden Sie der Ukraine nicht überdrüssig. (...) Die Ukraine zu unterstützen, ist kein Trend, kein Meme oder Onlinehype." Die russischen Bomben haben den Blick der Welt auf die Ukraine gelenkt - nun muss Selenskyj dafür sorgen, dass er dort bleibt.

Weil sich die Mittel des Präsidenten auf seine Worte beschränken, setzt er alles daran, dass diese nachhallen. So sind Selenskyjs Schilderungen der Kämpfe schonungslos, etwa wenn er von erdrosselten Frauen, Vergewaltigungen und Leichen auf den Straßen Butschas berichtet. Durch seine Reden ziehen sich heftige Gefühle, Trauer, Angst und Dankbarkeit, oft nur ein Komma voneinander entfernt. Selenskyj stellt extreme Forderungen, wie die nach einer Flugverbotszone, und äußert harsche Kritik. Besonders deutlich wurde dies, als er die deutschen Abgeordneten im Bundestag direkt fragte: "Warum unterstützen uns so viele andere Staaten entschlossener als Sie?"

Auch Selenskyjs historische Vergleiche gehen ins Mark. Er nennt Nord Stream 2 vor dem Bundestag "eine neue Mauer in Europa", erinnert vor dem US-Parlament an Pearl Harbour sowie den 11. September und vor dem britischen Unterhaus an die Verteidigung gegen Nazi-Deutschland. Durch die Vergleiche der dunkelsten Momente jener Länder mit dem russischen Krieg gegen sein Land schafft Selenskyj eine Art von gemeinsamer Erinnerung und sorgt für Solidarität. Allerdings nicht immer mit dem nötigen Feingefühl. Als er etwa den russischen Angriff vor der israelischen Knesset mit dem Holocaust vergleicht, hagelt es Kritik.

"Eine Nation geformt"

Selenskyjs Reden sind meistens wenig staatsmännisch, was auch daran liegen dürfte, dass der Präsident noch vor vier Jahren als Komiker auf der Bühne stand. Nun, in der Not, mache er daraus eine Tugend, beschreibt der Journalist Arkady Ostrovsky das Auftreten des Präsidenten zu Beginn des Buches. Selenskyj wirke wie "ein gewöhnlicher Mann, der in außergewöhnliche Umstände gedrängt wird" - genau wie all die Ukrainerinnen und Ukrainer, die sich nun mit Waffen in der Hand wiederfinden und ihr Land verteidigen müssen.

Besonders deutlich wird dies in den 32 Sekunden, die Selenskyj am Abend des 25. Februars in sein Handy spricht: "Wir sind hier", sagte der Präsident in dem Selfie-Video, das ihn mitten in Kiew zeigt. "Unsere Soldaten sind hier. Die Bürger sind hier. Wir alle sind hier und verteidigen unsere Unabhängigkeit. Und so wird es bleiben." Ostrovsky bezeichnet dies als wichtigste Rede des Präsidenten, im Buch taucht sie allerdings nicht auf. Seit diesem Video spricht Selenskyj fast jeden Abend zu den ukrainischen Bürgern, hält ihnen die Erfolge vor Augen und ruft zum Durchhalten auf. Die Worte des Präsidenten halfen dabei, die Ukrainer zu einer Nation zu formen, schreibt der Journalist. Eine Nation, die "durch ihre Werte, ihren Lebensstil und die Bereitschaft ihres Volkes, für sie zu sterben" definiert werde.

Das erste Buch von Wolodymyr Selenskyj, das diese Woche im Siedler Verlag erscheint, erzählt kaum etwas Neues - weder über den ukrainischen Präsidenten noch über sein Land. Es gibt auch keinen Hinweis darauf, wer die spektakulären Reden des Präsidenten schreibt. Lesenswert ist es trotzdem. Zum einen, weil es die wesentlichen Entwicklungen in der Ukraine aus einer Zeit, in der sich die Ereignisse überschlagen haben, zusammenfasst. Zum anderen - und das ist weitaus spannender - weil es der Welt, vor allem dem Westen, den Spiegel vorhält und gleichzeitig die Zeit zurückdreht.

Heute klopft sich Europa mit jedem getauschten Panzer und jeder gelieferten Patrone auf die Schulter. Sicherlich nicht zu Unrecht - ohne westliche Waffen sähe es auf dem Schlachtfeld für die Ukraine weitaus schlechter aus. Allerdings gab es auch eine lange Zeit, in der der Ukraine nicht viel mehr als europäisches Schweigen entgegenschlagen ist. Daran erinnert dieses Buch.