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Bundestag gedenkt queeren Opfern: Als Deutschland weitermachte, wo die Nazis aufhörten

Bundestag gedenkt queeren Opfern Als Deutschland weitermachte, wo die Nazis aufhörten

Der Bundestag gedenkt der Opfer des Holocausts - und stellt queere Opfer das erste Mal in den Mittelpunkt. Zehntausende homosexuelle Männer wurden von den Nationalsozialisten erniedrigt, viele ermordet. Die Geschichten der Opfer zeigen: Für sie ging das NS-Unrecht auch nach dem Zweiten Weltkrieg weiter.

Karl Gorath ist 22 Jahre alt, als ihn die Nationalsozialisten das erste Mal nach Paragraphen 175 verurteilen. Das ist im Jahr 1934. Von da an lässt der Staat den gelernten Krankenpfleger aus Bremerhaven nicht mehr aus dem Auge: Auf die Haft im Gefängnis folgen drei Jahre Zuchthaus und dann - im Jahr 1943 - schließlich das Konzentrationslager. Der junge Mann kommt erst nach Neuengamme, später wird er nach Auschwitz deportiert und kurz vor dessen Befreiung schwer krank in das Konzentrationslager Mauthausen gebracht. "Da war ich fast schon tot", wird er später sagen.

Überlebt habe er das Lager nur, weil er aufgrund seiner Ausbildung im Krankenblock arbeiten durfte. Ansonsten steht Gorath ganz unten in der Hierarchie des Lagers. Denn auf seinem Häftlingsanzug prangt zunächst der "Rosa Winkel" - die Kennzeichnung der Homosexuellen. Gorath wird verfolgt, inhaftiert und erniedrigt, weil er sich mit Männern trifft. Weil seine sexuelle Orientierung nicht der Schablone entspricht, in die die Nationalsozialisten die Gesellschaft mit allen Mitteln pressen wollten. "All das hätte Karl Gorath selbst erzählen sollen", sagt der Schauspieler Jannik Schümann im Reichstagsgebäude. Doch Gorath starb 2003 in Bremerhaven.

Im vollen Plenarsaal des Bundestages könnte man in diesen Minuten eine Stecknadel fallen hören. Bundeskanzler Olaf Scholz, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, die prall gefüllten Reihen der Fraktionen und des Kabinetts - alle verfolgen die Lebensgeschichte von Karl Gorath, vorgetragen von Schümann. Vom Rednerpult wandert ihr Blick langsam zur Wand des Reichstages, an die ein Foto projiziert wird: Karl Gorath - kahlgeschoren, im gestreiften Häftlingsanzug und mit weit aufgerissenen Augen.

Die Geschichte des im Dritten Reich verfolgten, inhaftierten und erniedrigten Mannes steht im Zentrum des diesjährigen Holocaust-Gedenktages im Bundestag. Gorath ist einer von Millionen Menschen, die den Nationalsozialisten zum Opfer fielen: Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma, Menschen mit Behinderungen, Zeugen Jehovas, politische Gegner und Homosexuelle. Seit 1996 gedenkt der Bundestag ihnen an diesem Tag. Im Mittelpunkt der Gedenkstunde stehen in diesem Jahr das erste Mal Menschen wie Gorath: Jene, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität verfolgt wurden.

Schon Blicke waren strafbar

Diese Opfergruppe habe "lange um ihre Anerkennung kämpfen" müssen, sagt Bundestagspräsidentin Bärbel Bas in der Eröffnungsrede. Viele homosexuelle Männer seien in der NS-Zeit zu langen Haftstrafen verurteilt, zur Sterilisation gezwungen und in Konzentrationslagern für medizinische Experimente missbraucht und oft auch ermordet worden, erinnert Bas. Kaum anders ging es Menschen, die nicht mit dem Geschlecht leben wollten, das die Gesellschaft von ihnen verlangte, fügt sie hinzu. Bas erinnert an die lange Geschichte des sogenannten 175ers: Jener Paragraph, der "Küsse, Berührungen, sogar Blicke" strafbar machte.

Bundestagspräsidentin Bärbel Bas eröffnet die Gedenkstunde.
Bundestagspräsidentin Bärbel Bas eröffnet die Gedenkstunde.

Bundestagspräsidentin Bärbel Bas eröffnet die Gedenkstunde.

(Foto: picture alliance/dpa)

Dahingehend hatten die Nationalsozialisten den aus der Kaiserzeit stammenden Paragraphen verschärft. Wo vorher nur homosexuelle Handlungen unter Strafe standen, galt dies ab 1935 für alle "unzüchtigen Handlungen" unter Männern. Frauen fielen zwar nicht unter das Gesetz, wurden jedoch häufig als "Asoziale" verfolgt und bestraft. Schließlich endete der Zweite Weltkrieg - die Hakenkreuze verschwanden aus dem Stadtbild und Deutschland begann, die Gräueltaten des Nationalsozialismus aufzuarbeiten. Jene Stelle im Strafgesetzbuch, die für das Leid Zehntausender verantwortlich war, blieb. Die BRD übernahm Paragraph 175 - unverändert - aus dem Dritten Reich.

So endete auch Karl Goraths Leiden nicht mit der Befreiung des KZ Mauthausen. Schon 1946 stand er wieder vor Gericht - und vor demselben Richter, der ihn bereits 1938 verurteilt hatte. "Sie sind ja schon wieder hier", erinnerte sich Gorath später an die Worte des Richters. Einen Antrag, die Zeit im Zuchthaus um die Zeit im KZ zu verkürzen, lehnte dieser ab. Ebenso stießen alle Anträge Goraths auf Wiedergutmachung wegen erlittenen Unrechts auf Granit. Für den Staat war die Sache klar: Als Homosexueller wurde Gorath nicht nach NS-Unrecht bestraft, sondern nach geltendem Recht.

Die Verfolgung nahm kein Ende

"Für Menschen wie uns war das Dritte Reich noch nicht zu Ende." Klaus Schirdewahn muss einmal schlucken, als er das ausspricht. "Das Gift der Nationalsozialisten", sagt er dann. Es wirkte zu lange in den Köpfen der Gesellschaft nach. Der heutige Aktivist ist nach 1945 geboren worden - den Nationalsozialismus hat er nicht mehr miterlebt. Trotzdem steht auch er an diesem Gedenktag im Mittelpunkt. Denn auch Schirdewahn fiel Paragraph 175 zum Opfer. Als 17-Jähriger wurde er 1964 schuldig gesprochen. Seine Haft konnte er nur abwenden, indem er eine Zwangstherapie begann. "Die sollte mich von meiner Homosexualität heilen", sagt Schirdewahn. "Heilen in Anführungszeichen."

Klaus Schirdewahn spricht als Vertreter der queeren Community im Bundestag.
Klaus Schirdewahn spricht als Vertreter der queeren Community im Bundestag.

Klaus Schirdewahn spricht als Vertreter der queeren Community im Bundestag.

(Foto: picture alliance/dpa)

Der Mann mit dem weißen, vollen Haar und der blau-lila gemusterten Krawatte spricht leise, als er von seinem Doppelleben in Scham und Angst erzählt. Bis vor fünf Jahren galt er als vorbestraft. "Lange Zeit schämte ich mich, obwohl ich niemandem was getan habe. Ich versuchte, es allen recht zu machen." Der Mann mit der kreisrunden Brille spricht von seiner Ehe mit einer Frau - und seinen Depressionen. Schirdewahn schaut in die vollen Reihen. Erst viele Jahre später, ermutigt durch Vorbilder und Aktivisten, kam sein Coming-Out. "Da dachte ich das erste Mal: Ich bin ich."

Heute spricht Schirdewahn im Bundestag als Vertreter der queeren Community. Bei ihrem Kampf um Erinnerung traf diese Gruppe auf jahrzehntelangen Widerstand. Rund 50.000 Männer wurden von 1933 bis 1945 nach Paragraph 175 verurteilt. 10.000 kamen nach ihrer Strafe in ein Konzentrationslager. Ungefähr genauso viele Männer fielen dem Paragraphen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zum Opfer. Bis 1969, als die Freiheit durch bunte Röcke, Blumenapplikationen und Studentenproteste schon längst die Stimmung der BRD prägte, stand der NS-Paragraph unverändert im Gesetzbuch. Ganz gestrichen wurde er erst 1994.

Diskriminierung queerer Menschen bleibt

Heute erinnert im Strafgesetzbuch nichts mehr an die Diskriminierung sexueller Minderheiten. In vielen Bereichen sieht das jedoch anders aus: Beim Blutspenden gelten für homosexuelle Männer noch immer strengere Regeln - erst jetzt scheint sich dies zu ändern. Immer wieder machen Gewalttaten gegen Transmenschen Schlagzeilen und in den sozialen Netzwerken werden homo- oder bisexuelle Menschen beschimpft.

"Diese Gedenkstunde ist wichtig für die gesamte Community", sagt Schirdewahn. Der heute über 70-Jährige tritt einen Schritt vom Rednerpult des Bundestages zurück, schaut hoch zu den Besuchertribünen, auf denen sich Vertreter der jüdischen und der queeren Community versammelt haben. Der gesamte Bundestag, der Kanzler, sein Kabinett, die Pressevertreter und Gäste - alle blicken auf Schirdewahn, stehen auf und klatschen. Lediglich ein Teil der AfD-Fraktion schafft es nicht von den Stühlen. "Dass ich hier stehen kann, ist noch nicht selbstverständlich", beendet Schirdewahn seine Rede. "Noch heute müssen sich queere Menschen für ihre Identität verstecken."