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Calmund, Hoeneß und das Kokain: Der tiefe Fall des Christoph Daum

Saison 2000/01: Kaum eine Spielzeit in 60 Jahren Bundesliga hat für so viel Aufregung und Emotionen gesorgt wie diese. In Gelsenkirchen weinen sie noch heute, wenn sie an die "Meister der Herzen" denken. Doch ein Mann und sein Schicksal überstrahlt alles: Christoph Daum und sein tiefer Fall.

In Unterhaching spielte in dieser Saison bei jedem Heimspiel die Band "Blechschaden" auf. Unter der Leitung des Schotten Bob Ross ertönte bei den Angriffen der Hachinger der "Radetzky-Marsch". Erhielt ein Spieler des Gästeteams die Gelbe Karte, erklang der schöne Klassiker "Hoch auf dem gelben Wagen". Am Ende der Saison sollte die Spielvereinigung auf Schalke noch bei einem unvergesslichen Spektakel dabei sein - doch zuvor sorgte ein Mann auf legendäre Weise für schiefe Töne und mehr als nur einen "Blechschaden": Christoph Daum.

60 Jahre Bundesliga_Kranz.png
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Erst einmal jedoch hatte der Trainer von Bayer Leverkusen am 12. August 2000 einen modischen Auftritt der Extraklasse. Beim Spiel gegen den VfL Wolfsburg erschien er ganz in Blau. Reiner Calmund war begeistert: "Ich fand den Anzug sehr gut. In einer Diskothek hätte Christoph Daum als Popstar sicher einen noch besseren Eindruck gemacht. Ich war überrascht, dass er wie ein moderner Elvis Presley aussah. Es hat nur ein bisschen Glitzer gefehlt." Doch kurz nach dem schillernden Auftritt als "blauer Daum" ist die Karriere des Leverkusener Trainers in Deutschland erst einmal beendet.

Im Herbst beginnt die Geschichte vom tiefen Fall eines großen Hoffnungsträgers der Republik zum geächteten Kokain-Schnupfer, der das Land schließlich in einer Nacht-und-Nebel-Aktion verlässt. Als Erich Ribbeck nach der katastrophalen EM in Belgien und den Niederlanden seinen Posten räumen musste, bildete man beim DFB eine Task-Force, deren Chef Karl-Heinz Rummenigge war. Diese schaffte es, Christoph Daum davon zu überzeugen, nach dieser Spielzeit Bayer Leverkusen zu verlassen, um die Nationalelf zu übernehmen. Teil des Deals: Übergangsweise wurde Rudi Völler zum Bundestrainer ernannt. Auf den ersten Blick war alles gut durchdacht, doch dann wurde die Sache kompliziert.

"Absolut reines Gewissen"

Als die DFB-Elf unter Leitung von Rudi Völler in Wembley England mit 1:0 schlug, gab Uli Hoeneß in München parallel der "Abendzeitung" ein denkwürdiges Interview, in dem er sagte: "Der DFB kann doch keine Aktion 'Keine Macht den Drogen' starten, und Herr Daum hat damit vielleicht etwas zu tun." Der Bayern-Manager sprach auch von den Gerüchten über "Prostitution" und "Erpressungsversuchen", die über Daum im Umlauf seien, und gelangte zu dem Fazit: "Wenn alles Fakt ist, worüber geschrieben wurde, auch unwidersprochen, über den verschnupften Daum, dann kann er nicht Bundestrainer werden. Ich habe noch keinen Beweis. Aber wenn ihn einer erbringt, dann mache ich das nicht mit."

Eine Lawine war ins Rollen geraten. Daum konterte gereizt, dass er sich am 9. Oktober in einer Pressekonferenz zu den Vorwürfen äußern werde. Absurde Gerüchte machten die Runde. In Medienkreisen spekulierte man gar darüber, dass möglicherweise Ergebnisse einer Nasenscheidewand-Operation aus dem Jahr 1996 veröffentlicht werden sollten. Doch dann tat Daum selbst etwas vollkommen Überraschendes. Er ging als Beschuldigter tatsächlich in die Offensive, gab eine Haarprobe ab und erklärte: "Diese Haarprobe wurde unter notarieller Aufsicht entnommen, versiegelt und wird heute dem Institut für Gerichtsmedizin in Köln übergeben. Ich tue das, weil ich ein absolut reines Gewissen habe." Sein Anwalt Matthias Prinz stellte nach diesem mutigen Schritt fest, dass Daum "lückenlos nachweisen kann, nie Drogen konsumiert" zu haben.

Fußball-Deutschland war mittlerweile in zwei Lager gespalten: die Daum-Anhänger und die Hoeneß-Befürworter. DFB-Präsident Mayer-Vorfelder wollte klare Verhältnisse schaffen: "Die Sache kann nicht beerdigt werden. Sie muss ausgetragen werden. Es muss auf den Tisch, wer recht hat. Und dann müssen gegebenenfalls Konsequenzen gezogen werden." Nach einem DFB-Friedensgipfel mit Mayer-Vorfelder, Calmund und Hoeneß verkündete Daum, der selbst nicht teilgenommen hatte, vollmundig: "Die Voraussetzung für ein Gespräch zwischen Gerhard Mayer-Vorfelder, Uli Hoeneß und mir ist, dass sich Uli Hoeneß bei meinen Kindern und mir in aller Form persönlich entschuldigt."

"Wenn die Probe stimmt, dann bist du krank"

Unterdessen ging der Liga-Alltag weiter. Bayern-Manager Hoeneß wurde bei der 1:0-Niederlage der Münchner in Cottbus übel vom Publikum beschimpft ("Hoeneß, mach dich ins Sanatorium"). Doch dann kam endlich Klarheit in die Geschichte: Das Ergebnis der Haarprobe war da. Nicht wie vorgesehen am 13. Oktober, sondern erst eine Woche später, weil die Mediziner die Probe insgesamt dreimal untersuchten. Sie waren von den "extrem hohen Werten" so überrascht, dass sie lieber auf Nummer sicher gehen wollten. Uli Hoeneß anschließend: "Dass die Haarprobe positiv war, hätte ich nie für möglich gehalten. An dem Freitagabend, als das Ergebnis intern in Leverkusen auf dem Tisch lag, gab mir Reiner Calmund einen Tipp. Am folgenden Sonntag wollte Daum mit mir in Frankfurt eigentlich über seine Schadenersatzforderung verhandeln."

Die Bundesliga wunderte sich, wie der Bayer-Trainer, der noch in der Nacht, nachdem das Ergebnis feststand, in die USA flog, die Haarprobe in Auftrag geben konnte. Bayer-Geschäftsführer Wolfgang Holzhäuser hatte eine mögliche Erklärung: "Ich glaube, dass Christoph Daum nicht mehr rational gehandelt hat." Rudi Völler sagte noch unter Schock: "Matthias Sammer, Reiner Calmund und ich werden versuchen, ihm zu helfen." Und der ebenfalls völlig überraschte Calmund: "Ich habe dem Christoph gesagt: Wenn die Probe stimmt, dann bist du krank, Junge, dann helfe ich dir."

Noch am Tage der Verkündung der Ergebnisse resümierte Franz Beckenbauer äußerst weitsichtig: "Er ist möglicherweise krank. Jeder kann von einer Krankheit geheilt werden. Wenn Christoph Daum gesund ist, warum soll er dann nicht auf die Trainerbank zurückkehren?" Bereits wenige Tage später stand fest: Rudi Völler übernimmt den Posten als Bundestrainer endgültig von Christoph Daum.

Ben Redelings

Ben Redelings ist ein leidenschaftlicher "Chronist des Fußballwahnsinns" und Anhänger des ruhmreichen VfL Bochum. Der Bestseller-Autor und Komödiant lebt im Ruhrgebiet und pflegt sein legendäres Anekdoten-Schatzkästchen. Für ntv.de schreibt er montags und samstags die spannendsten und lustigsten Geschichten auf. Weitere Informationen zu Ben Redelings, seinen aktuellen Terminen und seinem aktuellen Buch ("60 Jahre Bundesliga. Das Jubiläumsalbum") gibt es auf seiner Seite www.scudetto.de.

Nur knapp drei Monate danach, am 12. Januar 2001, gab Daum bereits wieder eine Pressekonferenz auf deutschem Boden. In Köln, moderiert von Werner Hansch, hörten 30 Kamerateams, 50 Fotografen, über 200 Journalisten, wie der ehemalige Startrainer der Bundesliga sagte: "Die Haaranalyse, die ich habe machen lassen, muss man im Nachhinein sagen, war ein Fehler (Gelächter unter den Zuhörern). Ich habe es mir auch anders vorgestellt."

Fußballgott "ist für mich gestorben"

Auf Schalke ereignete sich unterdessen am 34. Spieltag ein Fußball-Drama. Erst in der Schlussviertelstunde konnten die Königsblauen an diesem denkwürdigen Tag den 5:3-Sieg über Unterhaching klarmachen. Doch ohne einen Sieg des HSV in Hamburg gegen den FC Bayern würde es mit der Meisterschaft nichts werden. Umso grenzenloser war deshalb der Jubel im Parkstadion, als Sergej Barbarez in der Schlussminute das 1:0 für die Hamburger erzielte. Als schließlich "Premiere"-Reporter Rollo Fuhrmann auch noch das Signal gab, dass die Partie in Hamburg beendet sei, gab es kein Halten mehr. Nur Sekunden später erschien jedoch das Fernsehbild aus der Hansestadt auf der Leinwand in Gelsenkirchen. Im TV wurde - entgegen der Ansage von Fuhrmann - noch gespielt.

Und in diesem Moment erhielt Bayern einen Freistoß. Sekunden später war der Ball drin. In der Nachspielzeit. Schiri Merk pfiff gar nicht erst wieder an. Bayern-Torwart Oli Kahn sollte später sagen, dass er in den Augenblicken nach dem Führungstor des HSV nur gedacht habe: "Wir müssen weitermachen. Immer weitermachen. Immer weiter." Und während die Bayern glücklich jubelten, sagte der schwer angeschlagene Schalke-Manager Rudi Assauer an diesem Tag mit tränenerstickter Stimme einen legendären Satz: "Wenn es einen Fußballgott gibt, ist er ungerecht. Der ist für mich gestorben."