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Das doppelte Spiel der Türkei - So profitiert Erdogan von den Putin-Sanktionen

In einem Luxus-Einkaufszentrum in der westtürkischen Hafenstadt Bodrum werben Schilder mit russischer Aufschrift um Kunden. Auch das in hiesigen Häfen die Protz-Jachten russischer, vom Westen mit Sanktionen belegter Oligarchen andocken, ist kein Geheimnis.

Türkei-Herrscher Recep Tayyip Erdogan (68) hat seit Beginn des Putin-Krieges gegen die Ukraine sowohl der Nato als auch dem Kreml-Despoten die Treue versprochen und sich ausdrücklich NICHT an den Sanktionen gegen Russland beteiligt.

Für die Türkei zahlt sich das aus. Importe aus und Exporte nach Russland haben sich innerhalb eines Jahres verdoppelt. Russland war 2022 der größte Handelspartner der Türkei und löste damit Deutschland ab, heißt es von der Deutsch-Türkischen Industrie- und Handelskammer („AHK Türkei“) in Istanbul.

▶︎ Fakt ist: Auch deutsche Unternehmer in Moskau müssen zuschauen, wie nach dem Abzug westlicher Firmen unter anderem türkische und chinesische Unternehmen die Lücken füllen.

▶︎ Und: Die Türkei hat Deutschland beim Verkauf von Maschinen und Ausrüstung an Russland überholt, wie das Moskauer Wirtschaftsportal „rbc.ru“ unlängst meldete.

Die Türkei hat die Situation in vielerlei Hinsicht zu ihrem Vorteil gewendet. „Seit Beginn des Krieges kann die Türkei billiger Energieträger importieren“, sagt Erdal Yalcin, Professor für Internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Hochschule Konstanz zum Thema.

Fakt ist: Öl und Gas kamen schon vor dem russischen Angriffskrieg maßgeblich aus Russland. Aber: Seit 2022 haben sich die Ölimporte in etwa verdreifacht, wie aus Daten des Statistikamtes hervorgeht.

Vor dem Hintergrund einer Währungskrise und galoppierender Inflation dürfte das der Erdogan-Regierung in Ankara im Wahljahr 2023 sehr gelegen kommen.

Aber auch in Russland ist die Türkei präsenter denn je: Russische Medien berichten, dass türkische Restaurants und Modegeschäfte eröffnen (die Fashion-Marke „Koton“ zum Beispiel ersetzte „Marks & Spencer“).

Auch Russen-Oligarch Roman Abramovich hat letztes Jahr seine Superjacht in Bodrum anlegen lassen

Foto: YORUK ISIK/REUTERS

Die Vertiefung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Türkei und Russland gebe „Anlass zu großer Sorge“, heißt es in einem Schreiben des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell. Klartext: Ankara dürfe Russland keine Umgehungslösungen für Sanktionen anbieten.

Eine jedoch im Kern unehrliche Warnung, findet Yalcin. „Die Türkei importiert Rohöl aus Russland, bereitet es in seinen Raffinerien auf und verkauft es dann – als türkisches Produkt – nach Europa. Das ist eine Umgehung der Sanktionen in legaler Form.“

Bedeutet: Die EU muss sich bei aller berechtigter Türkei-Kritik auch an die eigene Nase fassen!

Auch das Geschäft mit Halbleitern aus der EU ist ein Beispiel für eine Umgehung der Sanktionen in legaler Form. Die Ausfuhren der Chips von dort nach Russland seien seit zehn Monaten deutlich zurückgegangen.

Gleichzeitig steige der Export der Chips in die Türkei und von dort weiter nach Russland, sagt Yalcin. „Wenn der Abnehmer eine 100-prozentige türkische Firma ist, ist es legal.“ Brisant: Die Firma müsse am Produkt nur marginale Änderungen vornehmen, ein Label reiche.

Ihm kommt der Krieg in der Ukraine wie gerufen: Erdogan lässt sich feiern

Foto: ADEM ALTAN/AFP

Für Russland ist die Türkei der Retter in der Not: Wer nach Europa will, fliegt mit großer Wahrscheinlichkeit über die Türkei – oder bleibt gleich dort.

Die Türkei ist wegen der EU-Reisebeschränkungen das wichtigste Urlaubsland für Russen. Die Immobilienkäufe von Russen in der Türkei – die ab 500 000 Dollar gleich die türkische Staatsangehörigkeit beinhalten – sind enorm gestiegen.

▶︎ Deutliches Plus: Von Januar bis November wurden 14 000 Immobilien an Russen verkauft. 2019 waren es 2900 Käufe.

Russland rüstet auf Das ist Putins neue Superwaffe

Dass mehr Russen im Land sind, macht sich vielerorts bemerkbar. In den ersten elf Monaten 2022 wurden laut türkischer Handelskammer „TOBB“ insgesamt 131 russische AGs und 1077 russische GmbHs in der Türkei gegründet.

▶︎ Zum Vergleich: Im Vor-Corona-Jahr 2019 waren es 17 AGs und 95 GmbHs. Die Türkei profitiere auch von russischem Kapital, das verstärkt in das Land fließe. Die türkische Leistungsbilanz weise auf hohe Kapitalzuflüsse hin, dessen Ursprung nicht vollends geklärt werden kann.

Bedeutet: „Also meist Geld, das im Koffer in ein Land gebracht wird“, sagt Yalcin.

Aber auch für den Westen hat sich das türkische Dazwischen stellenweise als profitabel erwiesen: Die Türkei ist bemüht, zwischen Moskau und Kiew zu vermitteln. Nicht zuletzt gilt der gute Draht Erdogans zu Kriegstreiber Putin als gewichtiger Grund die Fortsetzung des für die Welternährung so wichtigen Getreidedeals.

Fakt ist: Erdogans Nähe zu Putin und die gemeinsamen Treffen mit ihm sind für den türkischen Staatschef innenpolitisch kaum riskant – anders als für westliche Staatschefs.

Bis Ende 2030 wollen Russland und die Türkei ihr Handelsvolumen auf 100 Milliarden Dollar erhöhen. Russland will außerdem den größten europäischen Gasknotenpunkt in der Türkei errichten, ein Handelsplatz für Energie der Energiegroßmacht – und gleichzeitig ein lang gehegter Traum Erdogans.

Unter russischer Regie entsteht zudem derzeit ein erstes Kernkraftwerk in der Türkei (Kosten: 20 Milliarden US-Dollar), zwei weitere sind in Planung.

Verliert der Westen also gerade die Türkei als engen Handelspartner?

„Kurzfristig hat die Orientierung gen Russland für die Türkei Vorzüge. Langfristig ist es aber nicht nachhaltig“, meint Yalcin. Es sei der Handel mit Europa, der der Türkei langfristig die meisten Arbeitsplätze verspreche. Auch Thilo Pahl von der AHK Türkei sagt: „Deutschland ist und bleibt weiterhin der wichtigste Exportmarkt für türkische Unternehmen.“