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Das Lollapalooza macht sich frei: Berlin schüttelt seinen Speck

Eigentlich ist es fast zu spät im Jahr für ein Open-Air-Festival. Doch der Wettergott ist gnädig - und so heizt das Lollapalooza in Berlin noch einmal Zehntausenden Musikfans ein. Am Ende von Jahr eins nach dem Corona-Kahlschlag wollen alle hier vor allem eins: unbeschwert feiern.

Man hat sich bereits längst wieder an die Bilder gewöhnt: Corona scheint gefühlt vorbei zu sein - und so durfte auch beim Lollapalooza-Festival am Wochenende in Berlin endlich wieder gefeiert werden, als hätte es die Pandemie nie gegeben. Zwei Jahre in Folge hatte das Hauptstadt-Event, das erst 2015 seine Premiere gefeiert hatte, nicht stattfinden können. Doch auch hier muten Abstand halten, Hygieneregeln und Maskentragen unter freiem Himmel jetzt wie Relikte aus grauer Vorzeit an.

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Es darf wieder gefeiert werden.

(Foto: picture alliance/dpa)

Nicht nur für die gesamte Kultur- und Veranstaltungsbranche, sondern auch für die Künstlerinnen und Künstler und selbstredend die Zehntausenden Fans beim Lollapalooza ist das wie ein Befreiungsschlag. Die Erleichterung ist inmitten der feiernden Massen spürbar, als sei sie mit den Händen zu greifen, aber sie ist auch zu hören. Dann etwa, wenn "No Roots"-Überfliegerin Alice Merton bei ihrem Auftritt darüber sinniert, wann sie eigentlich das letzte Mal in Berlin gerockt habe. 2018 müsse das gewesen sein, mutmaßt sie.

Die Lust, sich endlich mal wieder frei zu machen, ist groß. Die Sorgen und Nöte der Welt wirken unheimlich weit entfernt auf dem geräumigen Olympiagelände im Berliner Westend. Und sie sollen zumindest bei den Headlinern auf den Hauptbühnen am Sonntag auch draußen bleiben. Sowohl Die Fantastischen Vier als auch Seeed verzichten darauf, etwa den Ukraine-Krieg bei ihren Auftritten zu thematisieren. Lediglich Casper hisst eine Fahne mit einer Friedenstaube auf der Bühne und lässt auf den Videowänden den Schriftzug "Nie wieder Krieg" einblenden - als allgemeines Statement zu seinem Song "Billie Jo", der allerdings auf den Irakkrieg Bezug nimmt. Das Thema Ukraine hingegen spricht auch er nicht offensiv an.

Hausmannskost statt internationaler Stars

Auch eine andere Diskussion bleibt dem Lollapalooza in diesem Jahr zum Glück erspart. Und das, obwohl sie mit zwei deutschsprachigen, weißen Hip-Hop-Acts und einer Reggae-Truppe mit einem gewissen Peter Fuchs ... ähhh ... Fox an der Spitze für einige sicher gut hier hin gepasst hätte. Das angebliche Problem kultureller Aneignung, weil Künstlerinnen und Künstler auch anderen Kulturen huldigen und sich von diesen inspirieren lassen, ist kein Thema, über das sich auf dem Olympiagelände am Wochenende allzu viele Gedanken gemacht haben dürften.

Ein Ausdruck für Diversität, wie ihn der "Musikexpress" ausgemacht haben will, ist das Lollapalooza in diesem Jahr allerdings auch nur bedingt. Klar, auf den Nebenbühnen und am Nachmittag ist mitunter viel Frauenpower angesagt. Das Hauptgeschehen mit den Top-Acts AnnenMayKantereit, Kraftklub und Machine Gun Kelly am Samstag sowie Seeed, Die Fantastischen Vier und DJ Tiësto (für die Electro-Fraktion im Olympiastadion) am Sonntag ist dann aber doch fest in männlicher Hand. Aber auch das dürfte ein Umstand sein, der den meisten Besucherinnen und Besuchern wohl kaum Kopfschmerzen bereitet hat.

Eher schon das Line-up an sich: Womöglich war es dann doch den Corona-Nachwehen geschuldet, dass das Festival in diesem Jahr stark auf Hausmannskost setzte, statt ein Staraufgebot aus Übersee einzufliegen. Von einigen Ausnahmen wie den Megan-Fox-Lover Machine Gun Kelly aus den USA mal abgesehen, versuchte das Lollapalooza 2022 in erster Linie mit Heimatklängen zu punkten. Ob sich das ausgezahlt hat, muss sich zeigen. Offizielle Zahlen zu den Besucherinnen und Besuchern lagen zunächst nicht vor. Gefühlt jedoch war geringerer Andrang als 2019, als noch bis zu 85.000 Menschen täglich zu dem Festival strömten.

Das Leben will einen ausgeben

Dennoch bleiben im Nachhinein einige positive Punkte festzuhalten. Erstens: Berlin kann inzwischen tatsächlich Festival. Die Kinderkrankheiten, mit denen das Lollapalooza in seinen Anfangstagen an verschiedenen Standorten zu kämpfen hatte, sind weitgehend ausgestanden. Das bargeldlose Bezahlsystem muss man nach wie vor nicht lieben, doch hat es mittlerweile auch schon bei anderen Festivals Einzug gehalten. Ebenso wie die allgegenwärtige Kommerzialisierung. Eines ist offensichtlich: Der alternative Anstrich, den sich das Lollapalooza gibt, ist auch hier nur blanke Fassade. Getränkepreise von 6 Euro für 0,4 Liter Bier oder 0,5 Liter Softgetränk und die Dauerpräsenz von Werbepartnern wie Coca-Cola, Swatch oder der Telekom sprechen eine andere Sprache.

Zweitens: Smudo befindet sich auf dem Weg der Besserung. Nach seinem Sturz bei einem Auftritt vor rund einem Monat, bei dem er sich die Patellasehne im Knie gerissen hatte, humpelt er beim Lollapalooza zwar mit Bandage über die Bühne. Doch seine Fanta-4-Kollegen rappen es in den Berliner Nachthimmel heraus: "Es ist der Smudo und er sieht gut aus." Wohl wahr.

Und drittens: Keine Band versteht es besser, in ihrer Heimatstadt die Hütte abzubrennen, als Seeed. Als Peter Fox und seine Kollegen am Sonntagabend um kurz nach 22 Uhr das Festival beschließen, gibt es wohl kaum noch Berlinerinnen und Berliner im Olympiapark, die zuvor nicht ihren Speck geschüttelt hätten. In die Nacht entlässt die Gruppe das Publikum allerdings mit ihrem Song "Aufstehn!" und der Textzeile "Das Leben will einen ausgeben und das will ich sehen". Wer wollte da widersprechen?