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Das Tagebuch von der WM in Katar: Die Angst des Schützen beim Elfmeter

Erst Japan, dann Spanien: Wie kommt es zu dem Komplettversagen im Elfmeterschießen? Auch die Superstars Messi und Lewandowski vergeben zuvor kläglich. Ob Wüstensand im Auge oder Schreie des Arbeiter-Leids im Ohr - irgendwas läuft schief. Ein Buch und ein Blick zum DFB würden helfen.

Ob diese österreichische Erzählung in Katar bekannt ist? Ob die Kicker den Autor mit Fußball-Faible in Spanien, Polen, Japan, oder Argentinien kennen? Peter Handkes Roman "Die Angst des Tormanns beim Elfmeter" von 1970 erzählt von den Fragen, die Fans seit der Einführung des Elfmeterschießens umtreiben: Wer hat die besseren Karten bei Schuss vom Punkt, Keeper oder Schütze? Wer hat mehr Schiss? Wer verspürt mehr Druck?

Zwar geht es in der Erzählung nur hintergründig um das Thema Fußball - sie verfolgt hauptsächlich die Geschichte des ehemaligen Torhüters Josef Bloch, der zum Mörder wird - aber bei der WM in Katar passt die Frage nun wieder. Weil ja eigentlich jeder Kennerin und jedem Kenner des Sports klar ist, dass der Torwart weitaus weniger Chancen hat als der Schütze. Doch dieses Turnier in der Wüste ist ja nicht umsonst verrückt: Und so scheint es, als drehe sich hier dieses uralte Gesetz einfach um.

Als Bestrafung für ein Foul oder Handspiel im Strafraum gibt es den Elfmeter bereits seit 1891. Ab den 50er- und 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts trieben bereits Varianten des modernen Elfmeterschießens ihr Unwesen, das weltweit schließlich 1976 eingeführt wurde. Damit natürlich auch bei der WM in Katar. Ein einziger Schuss aus mickrigen elf Meter entscheidet über Sieg und Niederlage, über Ruhm oder Schmach. Es ist der ultimative Showdown.

Lewandowski vergibt doppelt

Gleich bei der Europameisterschaft 1976 feierte das Elfmeterschießen seinen ersten internationalen Höhepunkt. Im Finale Deutschland gegen die Tschechoslowakei aufeinandertrafen haute Uli Hoeneß die Kugel in den Abendhimmel, während Antonín Panenka sich in die Geschichtsbücher eintrug: Er verwandelte seinen Elfmeter mit einem leichten Lupfer in die Tormitte und krönte die ČSSR zum Europameister.

Achraf Hakimi machte es am Dienstagabend mit seiner Hommage an Panenka ebenfalls mit dem frechen Chip und lupfte seine Marokkaner erstmals ins WM-Viertelfinale. Dazu hatte er aber als vierter Schütze nur die Gelegenheit, weil alle drei (!) Spanier zuvor vom Punkt vergeben hatten. Die Angst des Tormanns wird in Katar zur Angst des Schützens beim Elfmeter.

Klar, die Fallhöhe ist für den, der am Punkt steht, weitaus höher als für den zwischen den Pfosten. Vom Schützen erwarten die Fans den Treffer, der Torhüter kann zum Helden werden wie Keeper Bono für Marokko. Es heißt, der Ball benötige nur 400 Millisekunden, um mit rund 100 Kilometern pro Stunde die elf Meter zurückzulegen. Angesichts dessen ist die unglaubliche Flaute bei Schüssen vom Punkt in diesem Turnier so überraschend wie verwirrend.

Den Anfang machte Weltfußballer Robert Lewandowski mit einem Fehlschuss gegen Mexiko. Im Achtelfinale vergab er gegen Frankreich ein zweites Mal kläglich und hatte Glück, dass der Strafstoß wiederholt wurde und er doch noch sein zweites WM-Tor erzielen konnte. Dann war Megastar Lionel Messi dran. Im entscheidenden letzten Gruppenspiel gegen Lewandowskis Polen verpasste er die Führung vom Punkt. Erst danach folgten die schier unfassbaren Patzer in Reihe von Japan (einer von vier Elfmetern verwandelt) und Spanien (null von drei) im Elfmeterschießen.

Angst fressen Seele auf

Warum machen diese Kicker allesamt eine so unglückliche Figur? Ist es der Wüstensand in den Augen, der sich an manchen Tagen über Doha legt und der die Stadien in den kargen Landschaften an den Rändern der Metropole umgibt. An sich ein passendes Szenario für ein Duell dieser Art. Wie Cowboys stehen sich die Kontrahenten gegenüber. Irgendwo fliegt ein Strauchballen vorbei, womöglich schauen auch Clint Eastwood, Charles Bronson und Henry Fonda zu und ein paar Töne einer Melodie von Ennio Morricone erklingen. Nur den Männern am Punkt scheinen diese Szenen aus Western-Filmen etwas zu viel zu sein dieser Tage.

Ist es die klimatisierte Stadionluft, die das Künstliche bei dieser WM auf ein neues Level hebt? Oder eben doch der Druck, den ein WM-Spiel, vor allem ein Duell in der K.-o.-Runde mit sich bringt und der die Konzentration nach 120 Minuten Fußball in den Keller sinken lässt? Angst fressen Elfmeterschützenseele auf.

Tatsächlich dürften die Torhüter ihr Elfmetertraining in den vergangenen Jahren immer weiter intensiviert und Videomaterial und Statistiken studiert haben. Die Fans in Katar danken es ihnen. Marokkos Keeper Bono erhielt für jeden parierten Schuss der Spanier frenetischen Jubel, auch Stunden später tanzten seinetwegen Fans auf den Straßen Katars, Spaniens, der Beneluxstaaten und natürlich des Heimatlandes.

DFB kann sein Können nicht zeigen

Aber auch die Art und Weise der Fehlschüsse wirkte bedenklich. Unplatziert, lasch, zu hastig. Haben die Superkicker ihr Handwerk verlernt, weil der Wüstensand auch im Getriebe gelandet ist? Wie es geht, machte Deutschland im WM-Viertelfinale 2006 gegen Argentinien vor. Podolski. Neuville. Ballack. Borowski. Alle Schüsse landeten knallhart knapp neben dem Pfosten im Innennetz. Unhaltbar. Nur blöde, dass die DFB-Elf mittlerweile nicht mal mehr so weit kommt, dass es überhaupt ein Duell vom Punkt geben könnte

"Wenn der Schütze anläuft, deutet unwillkürlich der Tormann, kurz bevor der Ball abgeschossen wird, schon mit dem Körper die Richtung an, in die er sich werfen wird, und der Schütze kann ruhig in die andere Richtung schießen", erzählt Roman-Keeper Bloch in "Die Angst des Tormanns beim Elfmeter". "Ebenso gut könnte der Tormann versuchen, mit einem Strohhalm eine Tür aufzusperren."

Hätten Lewandowski und Messi, hätten die Spanier - die ja sogar "1000 Elfmeter" geübt hatten, wie es Trainer Luis Enrique vorab betonte - und die Japaner das Buch nur doch mal gelesen. Dieser Tipp wirkt womöglich besser als jedes Psychospielchen und jeder Abstopp-Anlauf. Vielleicht greift ihr, liebe Engländer, vor dem Viertelfinal-Kracher gegen Frankreich ja noch zur Lektüre. Die Nationalbibliothek Katars soll gut bestückt sein.