Vielleicht war es Schicksal, vielleicht eine düstere Vorahnung. Jedenfalls war das letzte Ziel, das Indiens ehemaliger Premierminister Rajiv Gandhi in seinem Leben aufsuchte, ausgerechnet eine Gedenkstätte für seine Mutter Indira, die 1984 bei einem Attentat durch die eigenen Leibwächter getötet worden war.
Er selbst hatte die Statue im südostindischen Sriperumbudur knapp zwei Jahre nach dem Mord eingeweiht. Nun hatten ihn seine politischen Freunde von der Kongress-Partei gebeten, auf seiner Wahlkampftour in der mit Abstand bevölkerungsreichsten Demokratie der Welt – wahlberechtigt waren 1991 etwa eine halbe Milliarde Menschen – auch wieder in Sriperumbudur vorbeizukommen.
Indira Gandhi mit ihren Söhnen Rajiv (re.) and Sanjay
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Gandhi sagte zu – und starb. Als er in dem Ort 50 Kilometer entfernt von der südindischen Hafenstadt Madras (die 1996 in Chennai umbenannt wurde) eintraf, legte er zunächst Blumen an der Statue seiner Mutter an der Hauptstraße des Ortes nieder. Dann ging er weiter zum Podest, das für seine kurze Rede aufgestellt worden war. Auf rund 10.000 Menschen schätzte die Polizei später die Zahl der Anwesenden.
Als der für die Wahl favorisierte Bewerber an diesem Dienstag gegen 22.10 Uhr Ortszeit inmitten jubelnder Anhänger, die ihm Blumensträuße und Geschenke überreichten, die Bühne betrat, „flammte ein grelles Licht auf“, berichtete der für die Nachrichtenagentur AP tätige indische Journalist Bhagwan Singh: „Es gab einen ohrenbetäubenden Knall. Splitter von Podesten flogen durch die Gegend. Zwei oder drei Augenblicke lang passierte nichts. Niemand reagierte. Dann rannte ein halbes Dutzend Männer durcheinander. Sie bluteten aus tiefen Wunden, eine Frau im blauen Sari lag verletzt am Boden und schrie. Um sie herum ein Knäuel grotesk verdrehter, verstümmelter Körper. Ich rannte näher, sprang über einige Körper hinweg. Dann sah ich Gandhis entstellten Leichnam unter drei anderen Toten liegen. Die linke Seite seines Gesichts war fortgerissen.“
Trauerzug für Rajiv Gandhi in Neu-Delhi
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Außer ihm starben sofort 15 weitere Menschen, noch einmal 43 wurden zum Teil lebensgefährlich verletzt; drei erlagen ihren Wunden. Trotzdem dauerte es nicht sehr lange, bis die indische Staatspolizei das Attentat aufklären konnte. Es zeigte sich, dass anders als zunächst vermutet nicht eine Bombe mit Zeit- oder Fernzünder benutzt worden war, sondern dass sich eine Selbstmordattentäterin zu Füßen ihres Opfers in die Luft gesprengt hatte. An ihrem zerfetzten Körper wurden Reste von Kabeln und eine Batterie aus britischer Produktion gefunden – Bauteile, die unmittelbar bewiesen, dass sie eine Bombe am Körper getragen hatte.
Sie konnte als die 17-jährige Thenmozhi Rajaratnam identifiziert werden, auch bekannt als „Kalaivani“, „Dhanu“ oder „Anbu“. Mutmaßlich drei Mittäter hielten sich nach der Auswertung von Fernsehbildern in der Nähe des Tatortes auf, darunter auch eine zweite junge Frau, die unter den Decknamen „Shubha“ oder „Shalini“ oder „Nithya“ bekannt war.
Nach hinduistischem Ritus werden die sterblichen Überreste von Rajiv Gandhi auf einem Scheiterhaufen verbrannt
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Die Tat wurde den Terrorgruppe „Liberation Tigers of Tamil Eelam“ (LTTE) zugeordnet; sie bestritten das zunächst, gaben aber 16 Jahre später ihre Verantwortung zu. Als Grund nannte ein LTTE-Sprecher, dass Gandhi sich während seiner Regierungszeit in den Bürgerkrieg auf Sri Lanka eingemischt hatte; für die „Befreiung“ der von der tamilischen Volksgruppe bewohnten Nordregionen der Insel kämpften die „Tiger“.
Rajiv Gandhi stammte aus der bis dahin absolut prägenden Politikerfamilie Indiens. Entgegen einem weitverbreiteten Irrtum hatte diese Familie nichts mit Mahatma Gandhi zu tun, dem pazifistischen Anführer der Unabhängigkeitsbewegung. Vielmehr waren die Nehrus, so der eigentliche Name der Familie, von hinduistischen Kaschmirern ab. Schon Motilal Nehru, der Urgroßvater von Rajiv, war Vorsitzender der indischen Kongress-Partei gewesen, ebenso dessen Sohn Jawaharlal Nehru. Er wurde als politische Kopf der Bewegung um Mahatma Gandhi der erste Premierminister des unabhängigen Indiens und blieb bis zu seinem Tod 1964 im Amt – 17 Jahre insgesamt.
Rajiv Gandhi 1964 während seines Studiums an der Cambridge University
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Er hatte nur eine Tochter: Indira, geboren 1917. Sie hatte 1942 den fünf Jahre älteren Feroze Gandhi geheiratet und seinen Namen angenommen. Die Ehe war nicht glücklich, trotz der zwei Söhne Rajiv (geboren 1944) und Sanjay (geboren 1946). Indira zog mit den Kindern zurück zu ihrem Vater, dem sie als Assistentin und Beraterin diente. Nach seinem Tod wurde sie Ministerin im Kabinett und Anfang 1966 erste Premierministerin Indiens. Mit einer Unterbrechung von 1977 bis 1980 blieb sie bis zu ihrem gewaltsamen Tod 1984 im Amt.
Eigentlich hatte sie ihren jüngeren Sohn Sanjay als Nachfolger auserkoren, doch der starb kurz nach dem Erfolg seiner Mutter bei den Parlamentswahlen 1980 beim Absturz des Flugzeugs, das er selbst steuerte. Nun musste Rajiv, gegen den Rat seiner Frau, der Italienerin Sonia, die Rolle als inoffizieller Kronprinz übernehmen.
Rajiv und sein Sohn Rahul, nachdem sie 1984 die Nachricht vom Mord an Indira Gandhi bekommen hatten
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Er hatte in Großbritannien die Schule besucht und studiert, war danach als Berufspilot bei der staatlichen indischen Fluggesellschaft eingestiegen und wollte sich eigentlich aus der Politik fernhalten. Nach dem Mord an seiner Mutter konnte er das nicht mehr – er trat an und führte die Kongress-Partei zu einem Erdrutschsieg. Doch er enttäuschte die hohen Erwartungen der Wähler, obwohl (oder weil) er liberal war und stark gegen Korruption vorging. 1989 verlor er die nächste Wahl und musste als Premier abtreten.
Anderthalb Jahre später kandidierte er erneut bei der vorgezogenen nächsten Parlamentswahl – und war am 21. Mai 1991 auf Wahlkampftour, als ihn die Bombe der Selbstmordattentäterin in den Tod riss. Sein 1970 geborener Sohn Rahul ging im Sommer 2004 in die Politik und brachte es bis zum Präsidenten der Kongress-Partei, zog sich aber nach einer Wahlniederlage 2019 zurück. Rajivs zwei Jahre jüngere Tochter dagegen hat mehrfach abgelehnt, sich überhaupt politisch zu betätigen.
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