Germany
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Die lieben Deutschen

Sechs Minuten vor Mitternacht Ortszeit war es, da ging ein Raunen durch das Al-Bait-Stadion in Doha. Erste Zuschauer erfuhren vom 2:1-Sieg der Japaner über Spanien. Was das bedeutete, war jedem klar – vor allem jedem Spieler, Trainer, Betreuer und Fans von Deutschland: das WM-Aus der Auswahl des Deutschen Fußball-Bundes (DFB).

Sekunden vergingen, dann war die Konstellation in der Gruppe E auch auf der Anzeigetafel zu sehen. Japan auf Platz eins, Spanien auf Platz zwei, Deutschland auf Platz drei und Costa Rica auf Platz vier. Dass das Spiel zwischen Deutschland und Costa Rica noch ein paar Minuten lief, spielte keine Rolle mehr. Die Zeit, um ein paar Tore auf Spanien aufzuholen, war zu knapp. Trotz eines 4:2 (1:0) – der erste Sieg bei dem Turnier in Katar – muss die Mannschaft von Bundestrainer Hansi Flick nur vier Jahre nach dem Desaster von Russland, als man erstmals in der Vorrunde ausgeschieden war, erneut den Heimflug nach der Gruppenphase antreten.

sagte Thomas Müller: „Wir haben unsere Hausaufgaben für unsere realistischen Szenarien gemacht. Unentschieden und Sieg für Spanien. Das ist ein bisschen Ohnmachtsgefühl. Man kann der Mannschaft heute und auch im Spanien-Spiel nichts vorwerfen, sondern das ganze Unglück ist mit dem Ergebnis im Japan-Spiel passiert.“

Die größere Wahrheit sprach wohl eher Antonio Rüdiger aus. Es war nur ein Satz, aber der sagte viel über diese Gruppe junger Männer: „Uns fehlt die Gier, das Dreckige. Wir sind eine liebe Mannschaft.“

Im ersten Gruppenspiel gegen Japan hatte Deutschland lange Zeit alles im Griff und führte mit 1:0, ehe das Spiel Mitte der zweiten Halbzeit kippte und man am Ende noch mit 1:2 verlor. Kai Havertz, der gegen Costa Rica eingewechselt wurde und noch zwei Tore markierte, verwies bei seiner Analyse nach der Partie in der ARD auch auf jenes Spiel: „Im Endeffekt müssen wir uns an die eigene Nase fassen. Wir hatten genug Chancen, gegen Japan zu gewinnen, genug Chancen, um gegen Spanien zu gewinnen“, sagte der Offensivspieler vom FC Chelsea: „Das Spiel gegen Japan hat alles kaputt gemacht.“

Gnabrys Zeichen nach dem Tor versandet

Da Spanien am ersten Spieltag der Gruppe E mit 7:0 gegen Costa Rica gewonnen und damit viel für sein Torverhältnis getan hatte, stand die deutsche Mannschaft gegen Costa Rica unter Druck. Um nicht abhängig vom Parallelspiel zu sein, hätte ein hoher Sieg am Ende möglicherweise reichen können – zumindest eine hohe Pausenführung hätte vielleicht ein Zeichen, ein Statement an die Konkurrenz sein können.

Dabei hatte es unmittelbar nach der Führung von Serge Gnabry in der 10. Minute den Anschein, als hätte die deutsche Mannschaft nichts anderes vor. Gnabry holte den Ball direkt aus dem Tor, lief ein paar Schritte und warf ihn dann in Richtung Mittelkreis. Es hatte Symbolcharakter, weil man ganz klar damit dokumentierte, dass man noch mehr Tore will. Doch die blieben erst einmal aus. Die, die dann fielen, kamen zu spät.

Serge Gnabry hatte es nach dem Tor eilig

Serge Gnabry hatte es nach dem Tor eilig

Quelle: AP/Ariel Schalit

„Wir hatten keine Effizienz in diesem Turnier, deswegen sind wir ausgeschieden“, sagte Bundestrainer Flick. „Natürlich ist die Enttäuschung riesengroß.“ Was das Nutzen von Chancen betrifft, offenbarte die deutsche Mannschaft auch gegen Costa Rica große Schwächen. Kläglich wurden unzählige Tormöglichkeiten vergeben. „Wir haben Fehler gemacht, deswegen sind wir ausgeschieden“, ergänzte Flick. „Aber dass die Mannschaft nicht brennt, das sehe ich nicht.“

Im vergangenen Jahr war Flick erst als Bundestrainer angetreten. Mit ihm, der den FC Bayern binnen einer Saison zu sechs Titeln geführt hatte, war große Hoffnung zurückgekehrt – am Ende einer Ära von Joachim Löw, der Deutschland 2014 zusammen mit Flick, seinem damaligen Assistenten, zum WM-Titel geführt hatte, aber dann in Russland vorzeitig ausgeschieden war und keine Impulse mehr setzen konnte.

Flick will weitermachen

Flick hat einen bis 2024 gültigen Vertrag. In der Nacht zum Freitag, als das WM-Aus besiegelt war, sagte er auf Nachfrage: „Mir macht es Spaß, wir haben eine gute Mannschaft. Von daher liegt es nicht an mir.“ Er sei in der ersten Halbzeit, so ließ er wissen, enttäuscht und auch richtig sauer gewesen: „Es war unser Ziel, dass wir zwei, drei, vier Tore vorlegen können. Die Chancen haben wir gehabt. Aber durch Leichtfertigkeiten haben wir den Gegner wieder ins Spiel gebracht. Wir hätten das Spiel durchaus höher gewinnen können.“

Hansi Flick schloss nach dem WM-Aus einen Rücktritt aus

Hansi Flick schloss nach dem WM-Aus einen Rücktritt aus

Quelle: Getty Images/Stuart Franklin

Es würde nun darum gehen, so Flick weiter, die WM aufzuarbeiten. „Für die Zukunft des deutschen Fußballs ist es wichtig, dass man Dinge in der Ausbildung anders macht. Es geht um die Basics. Für die Zukunft, die nächsten zehn Jahre und weiter, ist es enorm wichtig, dass man hier die richtigen Schritte macht“, ergänzte der Bundestrainer. Was die Frage nach eigenen Fehlern betrifft, entgegnete Flick: „Ich bin immer einer, der sehr kritisch ist.“ Gerade die Japan-Niederlage war auch seine Niederlage. Flick hatte beim Stand von 1:0 sowohl Thomas Müller als auch Ilkay Gündogan ausgewechselt. Im Anschluss ging erst die Stabilität im deutschen Team verloren, später auch das Spiel.

Am Donnerstag hatte im Vorfeld des letzten Gruppenspiels Flicks Aufstellung für Gesprächsstoff gesorgt – allen voran die von Joshua Kimmich hinten rechts in der Vierkette. Der Bundestrainer hatte es im Turnier bislang ausgeschlossen, den Münchner dort aufzustellen. Nun aber sollte Kimmich, der zuvor im defensiven Mittelfeld auf der „Sechs“ agiert hatte, dort ran.

Kimmich in der Viererkette – kein gutes Omen

Dass der Bundestrainer Kimmich in die Viererkette beordert hatte, weckte Erinnerungen – und zwar an den 27. Juni 2018, als die deutsche Mannschaft bei der WM in Russland im letzten Vorrundenspiel gegen Südkorea mit 0:2 unterlegen und damit das Aus besiegelt war. Da spielte Kimmich letztmals in der Viererkette. Es war also kein gutes Omen.

„Wir hatten gehofft, dass Spanien gewinnt“, sagte Kimmich nach dem Spiel, „aber ich glaube nicht, dass es uns zusteht, nun sauer auf Spanien zu sein. Wir hatten die Chance, Spanien zu schlagen, wir hatten die Chance, Japan zu schlagen.“

Kimmich wirkte sich in sich gekehrt, als er in den Katakomben sprach. Er sprach vom wohl schwierigsten Tag seiner Karriere. 2018 habe man, so der 27-Jährige, das Turnier vergeigt und vergangenes Jahr die Euro in den Sand gesetzt: „2016 bin ich dazu gekommen. Davor war Deutschland immer im Halbfinale. Das ist für mich persönlich nicht so einfach zu verkraften, weil man persönlich mit Misserfolg in Verbindung gebracht wird, für etwas, für das man nicht stehen möchte. Wir fahren wieder nach früh nach Hause, dementsprechend habe ich ein wenig Angst, in ein Loch zu fallen.“

Auf die Umstellung von Flick, der in der Startelf auf einen sechs Spieler umfassenden Bayern-Block setzte, mit ihm in der Viererkette, wollte Kimmich nicht eingehen. Es sei langweilig, darüber zu reden. Für Gesprächsstoff sorgte hingegen eine andere Personalie: Die ARD-Experten kritisierten die Jokerrolle von Niclas Füllkrug, der gegen Spanien das wichtige 1:1 erzielt hatte. „Da stelle ich mir aber die Frage: Warum ist dann kein Füllkrug aufgestellt, der diese Flanken verwertet?“, fragte Almuth Schult. „Mit der Idee von Kimmich außen hätte ich mir da eher einen Füllkrug vorgestellt. Das überrascht mich ein bisschen. Und auch, dass vorhergesagt wurde, dass Kimmich eine klare Sechs und am besten auf der Sechs ist und dann in diesem Spiel hinten rechts spielt.“ Thomas Hitzlsperger stimmte Schult in allen Punkten zu: „Ich weiß nicht, was ich noch ergänzen soll. Es geht genau um diese beiden Spieler.“ Auch Sami Khedira, Weltmeister von 2014, ließ wissen, „überrascht“ von der Aufstellung zu sein.

„Der schwerste Tag meiner Karriere“, sagte Joshua Kimmich über das WM-Aus

„Der schwerste Tag meiner Karriere“, sagte Joshua Kimmich über das WM-Aus

Quelle: dpa/Christian Charisius

Zum Sieg gegen Costa Rica reichte es, über die erneute WM-Blamage tröstet er jedoch nicht hinweg – im Gegenteil. Es ist die mangelnde Effizienz vor dem Tor und die Debatte über das Tragen der „One Love“-Binde, die hängen bleiben, die für ein Turnier stehen, in dem der DFB mit seinem Aushängeschild erneut versagt hat. Es ist eine hausgemachte Blamage, fast schon eine mit Ansage.

So groß die Hoffnungen auch waren, es in Katar besser zu machen als bei der EM im vergangenen Jahr oder vor vier Jahren in Russland, so klar muss man festhalten, dass die Probleme (mal unabhängig davon, dass man es versäumt hat, das Kapitänsbinden-Thema im Vorfeld zu klären) schon lange offenkundig sind. Was nutzen beispielsweise 32 Torschüsse gegen Costa Rica, wenn nur vier Treffer herausspringen? Dass nicht jeder Schuss auch immer ein Treffer ist, ist klar. Dennoch ist das nicht nur Pech, da wird kläglich versagt, fahrlässig agiert.

„Die Enttäuschung ist riesig. Man ist geschockt, weil wir an die Chance geglaubt haben. Die 20 Minuten gegen Japan haben uns viel gekostet“, sagte DFB-Direktor Oliver Bierhoff. „Wir sind alle in einem Boot. Es geht gar nicht um Fingerpointing, nicht darum zu sagen, wer jetzt Schuld hat.“ Die Spieler hätten alles gegeben, ergänzte der frühere Stürmer. Aber am Ende müsse man feststellen, dass es zu wenig gewesen sei. „Es zieht sich ein bisschen seit zwei, drei Jahren hin, dass wir häufig Spiele haben, die wir im Griff haben, dann aber irgendwie wieder hergeben, den Faden verlieren. Das war am Ende auch in der Gruppe so.“

Bierhoff muss sich hinterfragen

Dann wurde Bierhoff grundsätzlich. „Wir haben uns zu lange auf den Erfolgen ausgeruht“, räumte er ein. An Rücktritt denke er aber nicht: „Die Frage stelle ich mir jetzt gerade nicht.“

Vorrunden-Aus bei der WM 2018, Achtelfinal-Aus bei der EM im vergangenen Jahr – und nun erneut das vorzeitige Ende nach nur drei WM-Spielen: Oliver Bierhoff weiß, dass auch er hinterfragen muss, welchen Anteil er daran hat, dass die deutsche Nationalmannschaft nun schon seit einigen Jahren nicht mehr konstant genug spielt, nicht mehr überzeugt – und vor allem nicht mehr mitreißt.

Am frühen Freitagnachmittag wird der Tross des DFB den Heimflug antreten. Für Thomas Müller, der am Donnerstag sein 121. Länderspiel bestritten hat, könnte es der letzte Flug als Nationalspieler sein. Sein Abschied bei dem mitgereisten Anhang wirkte nach dem Abpfiff wie ein Abschied aus der DFB-Auswahl. Er werde das die nächsten Tage mit seiner Frau und dem Bundestrainer besprechen.