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Die-Linke-Chef Martin Schirdewan: »Ich bin kein Pazifist«

Linkspartei-Chef Martin Schirdewan

Linkspartei-Chef Martin Schirdewan

Foto: Dominik Butzmann / DER SPIEGEL

SPIEGEL: Herr Schirdewan, Ihre Linke wollte einen »heißen Herbst« organisieren, große Proteste gegen das soziale Ungleichgewicht im Land. Warum ist Ihnen das nicht gelungen?

Schirdewan: Die Ampelkoalition hat auf die Ankündigung von Protesten reagiert. Nehmen Sie etwa die Strompreisbremse oder die Abschaffung der ungerechten Gasumlage. Es wurden – wenn auch nicht ausreichend – Maßnahmen zur Entlastung der Bevölkerung ergriffen. Das ist auch uns zu verdanken.

SPIEGEL: Das ist eine spezielle Dialektik. Jetzt wollen Sie wieder demonstrieren, diesmal gegen Waffenlieferungen. Möchten Sie damit etwa der Ukraine helfen?

Schirdewan: Die Bevölkerung ist zutiefst verunsichert, die Bundesregierung hat keinen Kurs, wie sie den Krieg in der Ukraine beenden will. Der fürchterliche Angriffskrieg Russlands tobt seit fast einem Jahr, aber der politische Diskurs in Deutschland kennt nur eine Richtung, nämlich welche Waffensysteme als nächste geliefert werden sollen.

SPIEGEL: Was schlagen Sie vor?

Schirdewan: Wir müssen raus aus dem militärischen Tunnelblick, hin zu einer diplomatischen Lösung. Es muss Druck auf Wladimir Putin aufgebaut werden, damit dieser bereit ist zu Verhandlungen. Die Bundesregierung könnte da – etwa zusammen mit Brasilien und China – eine wichtige Rolle spielen, doch sie tut es nicht, weil der Kanzler von FDP und Grünen ins Militärische getrieben wird. Dort sind einige zu Waffenlobbyisten mutiert.

SPIEGEL: Was ist falsch an Waffenlieferungen, damit sich die Ukraine verteidigen kann und Druck auf Putin aufgebaut wird, um zu einer Verhandlungslösung zu kommen?

Schirdewan: Immer mehr Waffen führen zu einem Abnutzungskrieg mit immer größerer Eskalationsgefahr. Jetzt reden wir schon über Kampfflugzeuge. Wie soll das weitergehen?

Zur Person
Foto: Dominik Butzmann

Martin Schirdewan, geboren 1975 in Ost-Berlin, ist seit 2022 Bundesvorsitzender der Partei Die Linke. Schirdewan ist promovierter Politikwissenschaftler und hatte zunächst mehrere Stationen bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung, bevor er 2017 als Abgeordneter ins Europäische Parlament nachrückte. Seit 2019 ist er Co-Vorsitzender der Linkenfraktion im Europäischen Parlament.

SPIEGEL: Putin hat derzeit kein Interesse an Verhandlungen. Wie anders als durch militärischen Druck wollen Sie ihn an den Verhandlungstisch bekommen?

Schirdewan: Es gibt zivile Alternativen. Wir sehen beim Getreideabkommen oder beim Gefangenenaustausch doch, dass Verhandlungen möglich sind. Beim Druck auf Putin braucht es gezielte Sanktionen gegen den Machtapparat und Oligarchen…

SPIEGEL: Pardon, die EU hat mittlerweile ihr neuntes Sanktionspaket gegen Russland verabschiedet.

Schirdewan: Die vorhandenen Sanktionen werden nur halbherzig umgesetzt. Der reichste Oligarch Russlands, Wladimir Lissin, steht auf keiner Sanktionsliste der EU. Dabei soll er sogar Stahl für russische Atomwaffen geliefert haben. In Russland gibt es über 20.000 Multimillionäre, die Profiteure von Putins Regime. Nur ein kleiner Teil davon ist sanktioniert. Das kleine Belgien hat viel mehr Oligarchenvermögen eingefroren als das große Deutschland. Wir haben immer noch unzureichende Transparenzvorschriften und erfahren nicht, welche Villa am Starnberger See welchem Oligarchen gehört. Eigentümerstrukturen sollen im Vagen bleiben, damit die Superreichen weiter ihre Geschäfte machen können. Offenbar sind Waffenlieferungen für manche die bequemere Variante.

SPIEGEL: Ist das nicht reiner Populismus, Herr Schirdewan?

Schirdewan: Populistisch ist die Behauptung, mit Waffenlieferungen an die Ukraine lasse sich dieser Krieg beenden. Bei den Rüstungskonzernen knallen die Champagnerkorken.

Linkenchef Schirdewan

Foto: Dominik Butzmann / DER SPIEGEL

SPIEGEL: Ist für Sie der Griff zu den Waffen nie legitim?

Schirdewan: Ich bin Anti-Militarist von ganzem Herzen, aber kein Pazifist. Sicher gibt es Beispiele in der Geschichte, bei denen ich zu einer anderen Bewertung des Waffeneinsatzes komme…

SPIEGEL: Mögen Sie uns eines nennen?

Schirdewan: Der Kampf gegen den Nationalsozialismus im Zweiten Weltkrieg etwa. Aber die aktuelle Situation ist eine andere. Doch es gibt keine Anstrengungen Deutschlands für Alternativen zum globalen Konfrontationskurs der USA. Deshalb gibt es auch keine diplomatische Initiative der EU für die Einbeziehung Chinas. Wir scheitern als Westen in der Ukraine gerade im historischen Ausmaß.

SPIEGEL: Ihre Fraktionskollegin im EU-Parlament, Özlem Demirel, sprach davon, sie wisse nicht, wie ein Krieg gegen eine Atommacht auf dem Schlachtfeld gewonnen werden solle. Könnten sich nach dieser Logik nicht alle Atommächte andere Länder einverleiben?

Schirdewan: Die Geschichte hat gezeigt, dass Atommächte konventionelle Kriege verlieren können. Das trifft auf den Ukrainekrieg zu – bis Putin die Lesart verbreiten kann, Russland werde angegriffen. Die meisten Militärexperten sagen, es sei unrealistisch, dass die Ukraine etwa die Krim zurückerobern kann. Sollte dies versucht werden, wird die atomare Bedrohung wachsen.

»Wir dürfen und werden den Rechten nicht die Straße überlassen.«

SPIEGEL: Lässt man sich auf diese Logik ein, in welche Welt führt das?

Schirdewan: Ich bin der Ansicht, dass keine Macht der Welt andere Staaten erpressen darf. Wir würden in eine internationale Ordnung des Faustrechts zurückfallen. Deswegen hat die Ukraine auch das Recht, ihre Souveränität zu verteidigen.

SPIEGEL: Aber Sie wollen ihr nicht dabei helfen?

Schirdewan: Doch, aber mir geht es um Alternativen zur militärischen Logik.

SPIEGEL: Mancher Ihrer Genossen spricht von einem Stellvertreterkrieg. Ist das für die Linke ein Krieg zwischen der Nato und Russland, in dem die Interessen der Ukraine keine Rolle spielen?

Schirdewan: Den Begriff Stellvertreterkrieg halte ich für falsch. Russland hat die Ukraine angegriffen. Dennoch gibt es eine Stellvertreterdimension. Das sieht man an den Waffenlieferungen aus Iran oder Nordkorea nach Russland. Und das sieht man an den Waffenlieferungen des Westens an die Ukraine. Es gibt auch eine rhetorische Schärfe. Darüber muss man reden, weil genau darin die Gefahr einer Eskalation steckt.

SPIEGEL: Es gibt noch eine andere im Bundestag vertretene Partei, die ihre vehemente Ablehnung von Waffenlieferungen teilt, die AfD steht an Ihrer Seite. Wie wollen sie sich bei Ihren Protesten von den Rechtsaußen abgrenzen?

Schirdewan: Wir sind eine antifaschistische Partei. Die AfD will die Unterordnung unter den Diktator Putin, wir wollen dagegen zivile Alternativen zur militärischen Logik. Alle Umfragen zeigen ein großes Bedürfnis nach einer friedenspolitischen Stimme aus dem demokratischen Spektrum. Diese Stimme sind wir.

SPIEGEL: In Göttingen mussten sich Linke bereits distanzieren von einer Demonstration. In Aachen ist der Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko mit AfD- und »Querdenker«-Vertretern marschiert. Wird das Konsequenzen haben?

Schirdewan: Wir dürfen und werden den Rechten nicht die Straße überlassen. Aber dafür ist eine klare Kante wichtig. Grundsätzlich kann man nicht im vornherein kontrollieren, wer zu einer Demo kommt. Wir werben als Parteiführung jedoch für höchste Sensibilität und konsequente Abgrenzung.

SPIEGEL: Die Chefin Ihrer Bundestagsfraktion, Amira Mohamed Ali, hat gesagt, die SPD sei in der Panzerfrage umgefallen wie die Sozialdemokraten 1914 bei der Zustimmung zu den Kriegskrediten. Würden Sie es als gerecht empfinden, wenn man der Linken die geheimen Waffendepots der DDR vorwirft? Der vermeintliche Friedensstaat exportierte Waffen in die ganze Welt.

Schirdewan: Was mir vor allem Sorge macht, ist die zugespitzte Rhetorik in der Regierung. Ich sehe bei einigen schon Kriegsbesoffenheit. Einzelne Politiker von FDP und Grünen versuchen, sich zu profilieren und scheinen die historische Dimension nicht zu begreifen. Dass auch mal Linke in der Opposition zuspitzen, das ist so. Ich versuche bei diesem Thema eher ruhige Töne anzuschlagen.

SPIEGEL: Sie haben gerade von »Kriegsbesoffenheit« gesprochen, andere Linke ziehen über vermeintliche »Kriegstreiber« und »Nato-Freunde« her. Wo ist da der Unterschied?

Schirdewan: Die Debatte ist oft vergiftet. Persönliche Angriffe zerstören die politische Kultur. Ich wünsche mir die Rückkehr zu einer Debatte, die auf Verletzungen verzichtet und es uns erlaubt, die möglichen Optionen mit Besonnenheit zu diskutieren.

SPIEGEL: Beschlusslage der Linken ist noch immer die Auflösung der Nato und die Formierung eines neuen Sicherheitsbündnisses »unter Einbeziehung Russlands«. Dabei bleibt es, trotz Putin?

Schirdewan: Wir müssen Sicherheit auch jenseits der Nato definieren. Angesichts der gefährlichen politischen Tendenzen in den USA oder der völkerrechtswidrigen Angriffskriege des Nato-Mitglieds Türkei muss man sich überlegen, wie man sich unabhängig macht. Es ist dringend nötig, dass Deutschland als größte Volkswirtschaft der EU mit seinen europäischen Partnern darüber redet, wie man Europas Sicherheit selbst organisiert.

SPIEGEL: Apropos gefährliche politische Tendenzen – Russland ist Ihnen da lieber als die USA?

Schirdewan: Weder noch. Die EU muss unabhängig von beiden werden. Aber Russland wird auch nach dem Krieg in Europa liegen. Deshalb muss man über eine Nachkriegsordnung nachdenken. Das ist im Moment sicher schwierig, und natürlich ist mir ein demokratisches Russland ohne Putin lieber. Wenn wir aber dauerhaften Frieden wollen, müssen wir einen Umgang mit Russland finden. Ich wünschte, dass es jemanden gäbe in der Bundesregierung, die diese Aufgabe ernst nimmt. Allein, ich sehe niemanden.