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"Die Nation am Wendepunkt": Selbstbewusster Biden schaltet in Angriffsmodus

"Die Nation am Wendepunkt" Ein selbstbewusster Biden schaltet in den Angriffsmodus

Ein glänzend aufgelegter US-Präsident Biden zeigt sich bei seiner Rede zur Lage der Nation kampfeslustig, schimpft über Konzerne, lässt Republikaner auflaufen und warnt China deutlich. Die Entscheidungen des Kongresses seien wegweisend für Generationen.

Der Präsident lässt sie warten. Joe Biden schüttelt Hände, lächelt, plaudert verbindlich. Sein Weg durch die Sitzreihen des Kapitols in Washington hat aber nichts von einem Triumphzug durchs Scheinwerferlicht. Bidens Rede zur Lage der Nation ist auch in diesem Jahr eher eine kleine Heimkehr. An den Ort, wo der Demokrat über Jahrzehnte als Senator arbeitete. Er hat viel Neues mitgebracht. Unter anderem Angriffslust. Biden wird aus einer Position politischer Stärke reden - und die Republikaner für zukünftige Projekte in die Pflicht nehmen.

Am Pult angelangt, gratuliert er zunächst dem Republikaner Kevin McCarthy zu dessen neuem Posten als Sprecher des oppositionell dominierten Repräsentantenhauses. McCarthy, ein Verbündeter von Donald Trump, lächelt erfreut, sogar ein wenig überrascht. Es beginnt harmonisch in Washington. Hitzig wird es aber auch noch.

Von den Republikanern erntet Biden gleich zu Beginn Beifall, als er ihnen Zusammenarbeit anbietet. "Uns wird oft gesagt, Republikaner und Demokraten könnten nicht zusammenarbeiten, aber wir haben das Gegenteil bewiesen." Er erwähnt über 300 gemeinsame Gesetzesprojekte der vergangenen zwei Jahre. "Konflikt um des Konflikts willen führt uns nirgendwo hin."

Historische Projekte verabschiedet

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Der Saal war wie in den Zeiten vor der Pandemie wieder komplett gefüllt.

(Foto: AP)

"Wir sind hier, um den Job zu beenden", sagt Biden; ein Satz, den er in Variationen noch sehr häufig sagen wird in weit über einer Stunde am Mikrofon. Es gehe darum, gemeinsam die Mittelschicht, das Rückgrat des Landes, wieder aufzubauen. Biden führt im selbstbewussten Plauderton den derzeitigen Stand aus: die Arbeitslosigkeit so niedrig wie seit einem halben Jahrhundert nicht, 800.000 neue Industriejobs entstanden, so schnell wie seit 40 Jahren nicht. Biden hatte für seine Präsidentschaft als Priorität ausgerufen, solche Jobs zu schaffen. "Wenn es der Mittelschicht gut geht, klettern die Armen die Leiter nach oben und den Wohlhabenden geht es immer noch gut."

Bei seiner Rede Anfang März 2022 befand sich Biden in einer komplett anderen, düsteren Lage. Russland hatte kurz zuvor seine groß angelegte Invasion der Ukraine begonnen. Trotz Mehrheiten in beiden Kongresskammern wurden Bidens großen Wahlversprechen für mehr Jobs und Projekte für den Umbau der US-Wirtschaft blockiert. Noch im Juli 2022 erschien eine krachende Niederlage für die Demokraten bei den Kongresswahlen wahrscheinlich, und damit ein Weißes Haus für zwei Jahre ohne Mehrheiten. Biden lief die Zeit davon. Doch es kam anders, die Demokraten hielten die Mehrheit im Senat, und die Kontrolle der Republikaner über das Repräsentantenhaus ist wacklig.

Das Blatt wendete sich nach Meinung der Demokraten wegen Bidens Erfolgen auf den letzten Metern vor der Wahl. Mit Verhandlungsgeschick schob er da den Umbau der Wirtschaft an. Der gescheiterte Build Back Better Act, ein riesiges Paket für eine grünere Wirtschaft, ein Infrastrukturprogramm und Sozialgesetze, wurde aufgespalten. Das Wirtschaftsprogramm wurde flugs in ein Anti-Inflationsprogramm umgewandelt, was der Senat im August verabschiedete. Dort war es monatelang von einem demokratischen Senator blockiert worden. Unter anderem ist das landesweite Netz aus 500.000 E-Tankstellen darin enthalten. Dazu kommt der Chips Act, der die Halbleiterproduktion in den USA fördern und die Abhängigkeit von China verringern soll.

Um diese Wirtschaftsagenda durchzubringen, hat der Präsident jedoch sozialpolitische Vorhaben geopfert. Bezahlte Elternzeit gibt es weiterhin nicht. Medicare, die öffentliche Krankenversicherung für über 65-Jährige, darf erst ab 2026 für zehn verschiedene Medikamente die Preise mit der Pharmaindustrie verhandeln. In keinem Industrieland sind die Arzneimittelpreise so hoch wie in den USA.

Stärke gegenüber China

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Die ukrainische Botschafterin in den USA, Oksana Markarowa (Mitte), saß auf der Tribüne.

(Foto: REUTERS)

Als Biden sich über die Vorteile dieser Regelung auslässt, weil sie dem Staat viele Milliarden Dollar sparen wird, erwähnt er einen Vorschlag aus den Reihen der radikalen Republikaner, die der Finanzierung von Medicare ein Auslaufdatum verpassen wollen, das der Kongress regelmäßig verlängern müsste. Es wird hitzig im Saal, Biden duelliert sich verbal mit einer Gruppe um die republikanische Abgeordnete Marjorie Taylor Greene, es geht hin und her. Dann bittet er den Kongress darum, "für Senioren" aufzustehen. Fast der ganze Saal steht. Unter Jubel ruft Biden: "Falls irgendjemand Medicare kürzen will, werde ich mein Veto einlegen." Der US-Präsident spielt die republikanischen Lager gegeneinander aus, denn er weiß: Auch für viele der Konservativen ist Medicare unantastbar.

Biden war immer ein Politiker der Mitte. Aber seine Angriffslust ist deutlich gewachsen. Er attackiert die großen Tech-Konzerne wegen Datenmissbrauch, Unternehmen, die keine Steuern zahlen, die Pharmaindustrie wegen ihrer hohen Preise und die Auswirkungen auf den Staatshaushalt und viele mehr. Der Präsident präsentiert sich als kampfeslustiger Streiter gegen Konzerne, die machtlosen Bürgern das Geld aus der Tasche ziehen.

Fast eine Stunde dauert es, bis der US-Präsident auf den Ukraine-Krieg zu sprechen kommt. Vor einem Jahr saß auf der Tribüne die ukrainische Botschafterin in den USA, nicht wenige sagten, Kiew und das ganze Land werde schnell in die Hände Moskaus fallen. Dazu ist es nicht gekommen, die USA führen stattdessen eine internationale Koalition an, die die ukrainischen Streitkräfte unterstützt. Die Botschafterin ist auch diesmal anwesend.

Danach droht der US-Präsident in Richtung China - die USA seien in der stärksten Position seit Jahrzehnten, um mit China zu konkurrieren. Es ist der Schlussakt von Bidens Rede. Es gehe um Wettbewerb, nicht Konflikt. Er bezieht sich auf den Vorfall des chinesischen Spionageballons, der in der vergangenen Woche über die Vereinigten Staaten flog und am Samstag von einem US-Kampfflugzeug vom Himmel geholt wurde: "Wenn China unsere Gebietshoheit bedroht, werden wir handeln, um unser Land zu beschützen." Die USA müssten ihre Demokratie verteidigen. "Wir treffen uns heute Abend an einem Wendepunkt", mahnt er. "Die Richtung, die wir jetzt einschlagen, wird den Kurs dieses Landes auf Generationen hin bestimmen."

Kooperationsbereitschaft, Angriffe, Emotionen, Zahlen, das große Ganze und sogar im Handumdrehen noch eine Initiative der Republikaner auseinanderdividiert - es war eine exzellente Rede zur Lage der Nation. Biden nimmt dafür noch Glückwünsche entgegen, grüßt, erzählt Anekdoten, trifft augenscheinlich Verabredungen unter vier Augen. Mehr als eine Viertelstunde braucht der US-Präsident, um wieder aus der Tür zu kommen.